: Michael Hunklinger
: Wir werden nicht verschwinden Wie Minderheiten dem Rechtsruck trotzen
: Verlag Kremayr& Scheriau
: 9783218014656
: 1
: CHF 17.00
:
: Gesellschaft
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Politik und Gesellschaft rücken immer weiter nach rechts. Das betrifft uns alle, aber nicht alle gleich. Michael Hunklinger macht deutlich, warum die ewigen Warnungen nicht mehr genug sind, welche Minderheiten jetzte schon unter Druck stehen und wie wir uns in Zukunft wehren können. Wir sind mittendrin im Rechtsruck. Für die Mehrheitsbevölkerung ist Rechtspopulismus eine abstrakte Gefahr, für Minderheiten wie Migrant:innen, die LGBTQ+ Community, People of Colour und Menschen mit Behinderung ist die Gefahr real. Das ist jede:r fünfte in unserer Gesellschaft. Wie konnte es so weit kommen? Und was bedeuten die aktuellen Entwicklungen konkret für Minderheiten in Europa? Michael Hunklinger rückt Menschen in den Mittelpunkt, die nicht in die sogenannte 'gesellschaftliche Norm' passen. Gerade sie brauchen Selbstvertrauen, Geradlinigkeit und Courage. Mehr denn je sind aber auch Politik und Gesellschaft gefordert, sich aktiv an ihre Seite zu stellen. Wir haben immer eine Wahl. Michael Hunklinger macht deutlich, dass Warnungen vor AfD, FPÖ und Co nicht genug sind und warum die 'konservative Mitte' den Rechtsruck noch stärker vorantreibt. Es ist an der Zeit, dass wir der Gefahr ins Auge sehen und Allianzen schmieden, um ihr etwas entgegenzusetzen.

Michael Hunklinger, geboren 1989, ist Politikwissenschaftler und Autor. Derzeit forscht und lehrt er zu den Themen Diversität und Ungleichheit an der Universität Amsterdam, zudem arbeitet er in diversen internationalen Projekten, die sich vor allem mit Fragen von politischer Partizipation und Repräsentation von LGBTQ+ Personen beschäftigen. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen analysiert und kommentiert er regelmäßig LGBTQ+ Themen, u. a. in der ZiB, im Standard oder in der Washington Post.

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DAS LIBERALE VERSPRECHEN UND SEINE ENTTÄUSCHUNGEN


Alles neu. Alles modern. Alle frei. Alles geht. Die 1990er waren ein ganz besonderes Jahrzehnt voller Versprechen von Fortschritt und Moderne. Wirtschaftlich, politisch und vor allem auch gesellschaftlich. Modisch und musikalisch durchaus fragwürdig, aber im Großen und Ganzen war man sich einig, dass eine neue Zeit angebrochen sei. Eine gute neue Zeit. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sprach damals sogar vom Ende der Geschichte.15 Damit meinte er, dass der Wettbewerb der Systeme, der die Jahrzehnte davor geformt hatte, nun ein Ende hatte. Der Wettbewerb zwischen der Sowjetunion und den USA hatte nicht nur die politischen Entwicklungen geprägt, sondern auch die gesellschaftlichen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte nun also der Westen gesiegt. DerAmerican Way of Life. Freiheit und Fortschritt. So ging eine verbreitete und häufig als Selbstverständlichkeit akzeptierte Sicht der Dinge. Doch ganz so war es selbstverständlich nicht. Selbstverständlich hat der Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus für viele Menschen sehr viele Freiheiten gebracht. Aber eben nicht nur.

Der Liberalismus hatte immer zwei Stränge – den politischen und den wirtschaftlichen. Zu unterschiedlichen Zeiten zeigte sich jeweils der eine oder der andere Strang dominanter und trug stärker zur politischen und gesellschaftlichen Prägung bei. Der Liberalismus hat insofern zur Entwicklung moderner Demokratien beigetragen und die Bedeutung von Menschenrechten, Meinungsfreiheit und sozialem Fortschritt betont. Politisch setzte der Liberalismus auf die Begrenzung staatlicher Macht durch Rechtsstaatlichkeit und die Garantie von Grundrechten. Insbesondere das deutsche Grundgesetz formuliert die Grundrechte als bürgerliche Abwehrrechte gegenüber der Staatsmacht, eben um diese zu begrenzen. Der klassische Liberalismus, wie er von Denkern wie John Locke, Adam Smith und John Stuart Mill formuliert wurde, stellt den Einzelnen in den Mittelpunkt. Freiheit, Gleichheit und die Idee der Selbstverwirklichung durch Vernunft und moralische Autonomie bilden die Grundlage. Auf das Wirtschaftsleben angewandt bedeutete dies die Ablehnung von Feudalismus und absolutistischer Herrschaft zugunsten eines freien Marktes.

Im 20. Jahrhundert entstand dann mit dem Neoliberalismus eine spezifische Variante des Liberalismus. Der Neoliberalismus betont theoretisch die Werte der Freiheit und des Marktes und hat dabei vor allem einen starken Fokus auf Deregulierung, Privatisierung und die Zurückdrängung staatlicher Interventionen. Er entstand als Reaktion auf den wachsenden Einfluss des Wohlfahrtsstaates und keynesianischer Wirtschaftspolitiken, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Westen dominierten. Der Neoliberalismus verschiebt den Fokus von der moralischen und politischen Freiheit des Einzelnen hin zu einer Überbetonung des Marktes. Alles wird in einer Logik des Marktes gedacht. Während der klassische Liberalismus die Möglichkeit sozialer Gleichheit und den Wert kollektiver Institutionen in Betracht zog, sieht der Neoliberalismus diese oft als Hindernisse für die individuelle Selbstverwirklichung durch Wettbewerb.16

Die Neoliberalisierung der Gesellschaft und der damit einhergehende Fokus auf das Individuum haben auch in Deutschland und Österreich zu einer tiefgreifenden Transformation geführt. In Deutschland und Österreich führte dieser Paradigmenwechsel, wie auch in vielen anderen Ländern, zu tiefgreifenden Veränderungen im Sozialstaat, der Organisation von Arbeit und dem Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. Während neoliberale Reformen zu wirtschaftlicher Flexibilität und Wachstum geführt haben mögen, hat die Betonung individueller Verantwortung zugleich soziale Ungleichheit und Unsicherheit verstärkt. Freiheit heißt eben nicht nur Erfolg. Freiheit heißt au