Seit dem 1. Juli 2020 wird die systemische Therapie von der Krankenkasse finanziert. Jetzt sollten wir als Systemikerinnen auch dafür sorgen, dass nicht nur systemische Therapie draufsteht, sondern dass systemische Therapie auch drin ist. Dazu wollen wir gern mit diesem Buch beitragen! Diese Aufgabe wird noch aktueller, da die systemische Kinder- und Jugendlichentherapie seit dem 1. Juli 2024 ebenfalls ein durch die Krankenkasse abrechnungsfähiges Verfahren ist. Die systemische Perspektive ins Gesundheitswesen zu integrieren, ist Pionierarbeit. Der Anpassungsdruck an die dort vorherrschenden Denkweisen, Strukturen und Abläufe führt leicht dazu, dass Therapeutinnen, Ausbildungskandidatinnen, Supervisorinnen und Ausbildende dem unterliegen. Systemische Sichtweisen und Vorgehensweisen gehen dann verloren, verblassen, verlieren ihre Kraft. Die Psychotherapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (2024) beschreibt im § 18 zwar die systemische Sicht, in der Symptome als kontraproduktive Lösungsversuche psychosozialer und psychischer Probleme verstanden werden. Gleichwohl wird eine individuelle Diagnostik nach ICD verlangt, die sich ausschließlich auf körperliche und psychische Phänomene bezieht und kommunikative und gesellschaftliche Aspekte außer Acht lässt. Im Leitfaden zum Erstellen des Berichts an die Gutachterin oder den Gutachter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (2020) wird ein Behandlungsplan für die Psychotherapie gefordert. Aus dem systemischen Ansatz heraus empfiehlt sich aber ein prozessorientiertes Vorgehen. Der Mensch wird als ein komplexes System verstanden, das nicht instruierbar ist. Die Systemikerin im Gesundheitswesen wird auf diese Weise mit einer Reihe von weiteren Widersprüchen konfrontiert. Wir brauchen deshalb Mut und Klarheit, damit die systemische Therapie einen wirksamen Beitrag zur Gesundheitsversorgung leisten kann.
Der systemische Ansatz hat außerhalb des Gesundheitswesens (Jugendhilfe, Sozialarbeit, Supervision, Coaching, Organisationsberatung) eine enorme Verbreitung erfahren. Seine Stärken, Komplexität zu erfassen, Ressourcen in Veränderungsprozessen zu nutzen, mit ganzheitlicher Sicht auf den Menschen zu blicken, flexibel zu intervenieren, ohne starr und schablonenhaft vorzugehen, mit maximaler Augenhöhe und unter weitgehendem Erhalt von Autonomie der Betroffenen Beziehungen zu gestalten, üben auch auf Therapeuten im Gesundheitswesen eine hohe Anziehung aus. Sie identifizieren sich mit diesen Werten und entscheiden sich für eine systemische Ausbildung. Dies, obwohl die Anzahl der genehmigten Behandlungsstunden in anderen Verfahren höher ist und die Bezahlung von Einzelsitzungen und Mehrpersonensitzungen gleich hoch ist.
Nach Erfahrungen aus über vier Jahren systemischer Therapie sowie Approbationsausbildung1 in der Gesundheitsversorgung wollen wir vorstellen, wie die Ideen des systemischen Ansatzes in den Rahmenbedingungen und Haltungen, die im Gesundheitswesen vorherrschen, realisiert werden können – ohne dass die systemischen Therapeutinnen einer Überanpassung an das vorherrschende Denken im Gesundheitswesen erliegen. In den letzten Jahren haben wir über unsere Praxis als Therapeuten, Ausbilder usw. Punkte erleben dürfen, in denen systemische Sichtweisen und Sichtweisen im Gesundheitswesen unterschiedlich bis widersprüchlich sind. Kurz vor Abgabe unseres Manuskripts erschien eine Ausgabe des »Kontext«2, die ausschließlich die Fragen diskutiert, wie systemische Therapie