1. KAPITEL
Cistéal Dùn Naomhaig (Dunyvaig Castle), Islay, Schottland – drei Wochen später
Der Lärm von Leuten und Arbeiten im Bergfried und auf dem Hof weckten sie, lange bevor sie überhaupt willens war, aufzuwachen. Wasser trennte Iona – ihr Zuhause der letzten drei Jahre – vom Festland, aber noch nie war es dort derart laut zugegangen. Die in Andacht versunkenen Brüder und Schwestern riefen nie Befehle oder stellten laute Fragen. Nein, sie befand sich gewiss nicht länger auf Iona.
Dennoch trug Ilysa MacDonnell immer noch die Tracht, die sie am Leib hatte, als die Männer ihres Vaters sie aus dem Nonnenkloster holten. Schon bald nach ihrer Ankunft auf der heiligen Insel hatte sie ihre privilegierte Kleidung abgelegt und sich an die schlichten Gewänder derer gewöhnt, die das Gelübde abgelegt hatten und mit denen sie fortan gemeinsam arbeitete.
Als sie ihr Gewicht auf der ungewohnt weichen Matratze verlagerte, schmerzte ihr Körper vom Scheitel bis zur Sohle, und erst da machte sie sich bewusst, dass sie mit bloßen Füßen unter der Decke lag. Sie richtete sich ein wenig auf, blickte an sich herab und versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wann sie Strümpfe und Schuhe abgelegt hatte. Als sie leicht den Kopf bewegte, wurde ihr klar, dass sie noch Schleier und Wimpel trug.
„Du siehst wie eine Nonne aus, Ilysa.“
„Und ich lebe auch wie eine, Lilidh“, erwiderte sie und ließ ein Achselzucken folgen. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass ihre Schwester hereingekommen war, daher musste sie bereits im Zimmer gewartet haben. Ilysa schwang die Beine über die Kante des erhöhten Betts und ließ sich auf den Boden gleiten.
„Ich habe dir Strümpfe und Schuhe ausgezogen“, gab Lilidh zu. „Ich habe nicht vergessen, dass du lieber so schläfst.“
Tränen brannten in Ilysas Augen, als die Erinnerungen an früher zurückfluteten, an eine Zeit, als ihre ältere Schwester sich immer um sie gekümmert hatte. Mehr brauchte es nicht – Lilidh eilte quer durch das Zimmer und drückte Ilysa fest an sich. „Ich habe dich vermisst, Schwester.“
„Und ich dich, Lilidh.“
Ilysa genoss die Wärme der Umarmung und all die Gefühle, die damit verbunden waren. Im Kloster fassten die Novizinnen einander nicht an, es sei denn, sie kümmerten sich um Kranke oder Verletzte. Und in diesem Moment machte sie sich bewusst, wie sehr sie die körperliche Nähe vermisst hatte.
Bei den MacDonnells war es von je her laut und turbulent zugegangen, die Familienmitglieder ließen ihren Gefühlen freien Lauf und berührten einander ungezwungen, wann immer es sich ergab – ein vollkommen anderes Zusammenleben als in der Klostergemeinschaft, in der Ilysa drei Jahre lang gelebt hatte. Wie hatte sie nur ohne all die Lebendigkeit überleben können?
Als Lilidh sie wieder losließ und einen halben Schritt zurücktrat, ließ sie ihren Blick über Ilysa wandern und betrachtete schließlich ihren Arm eingehender. „Habe ich dir wehgetan?“, fragte sie. „Am Arm?“
„Nein.“ Ilysa konnte den linken Arm nicht richtig bewegen, daher hing er schlaff herab. „Alles in Ordnung, wirklich.“
Vor Jahren, es mochte fünf Jahre her sein, war Lilidh noch nicht bewusst gewesen, wie stark Ilysa des Armes wegen eingeschränkt war, einmal hatte sie sich aus Versehen auf den Arm gesetzt. Erst bei dem knackenden Geräusch hatte Ilysa bemerkt, was tatsächlich passiert war: der Knochen war gebrochen. Sie hatte keinen Schmerz verspürt … damals jedenfalls.
„Weißt du, warum ich wieder hier bin? Vaters Männer wollten mir nichts sagen, nur, dass Vater angeordnet hat, dass ich nach Hause kommen muss.“
Sie neigte den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite und versuchte, die Verspannungen loszuwerden, die vom Schlafen auf einer zu weichen Matratze herrührten. Dann fasste sie sich mit einer Hand an das Band, das den Wimpel hielt.
Ihre Schwester kam ihr zuvor. „Warte. Setz dich, ich mache das.“ Lilidh hob vorsichtig den Schleier an, löste die Bänder des Wimpels und hatte ihr bereits die Nonnenhaube abgenommen, ehe Ilysa sie warnen konnte …
„Die haben dir die Haare abgeschnitten?“ Lilidh ließ die klösterliche Kopfbedeckung sinken und berührte Ilysas kurze Locken, die ihr nur noch bis auf den Kragen fielen. Einst war ihr die Fülle ihrer Haare bis weit über die Hüften gefallen, wie bei Lilidh, die ihr blondes Haar zu zwei langen Zöpfen geflochten hatte. „Sie hab