Magnus Dellwig / Ernst-Joachim Richter
Wirtschaft im Wandel
Oberhausen 1960 bis 2011
1. Oberhausen um 1960 eine Zeitenwende, und keiner merkt es
Strukturwandel in Oberhausen beschreibt einen Prozess, der im Verlaufe eines halben Jahrhunderts von 1960 bis 2011 die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse der Menschen in der Stadt von Grund auf veränderte. Aus der jungen Industriestadt auf dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt sich über manche Krisen in Kohle, Eisen und Stahl aber auch in vielen weiteren Wirtschaftszweigen im beginnenden 21. Jahrhundert der Dienstleistungsstandort mit dem Alleinstellungsmerkmal als neues Tourismus- und Freizeitzentrum der Metropole Ruhr. Die Jahre um 1960 markieren in der Rückschau eine einschneidende Zeitenwende. Der Boom der Nachkriegsjahre bei Kohle und Stahl schlägt in eine Verlangsamung des Wachstums, in die Stagnation der Stadtbevölkerung und in den Auftakt zur Kohlekrise um. Dennoch vermittelt der Zeitgeist der Zeitgenossen uns nachfolgenden Generationen über Zeitungen, Stimmungen, Literatur, Feste, Arbeitswelt und Kommunalpolitik den Eindruck, die Menschen im Oberhausen des Jahres 1960 hätten nahezu nichts davon bemerkt, dass sie in einer Zeitenwende lebten, in der wichtige Lebensgrundlagen für immer tiefgreifend erschüttert wurden.
Uns geht es doch wieder gut. Wir sind wieder wer! der Zeitgeist des Wirtschaftswunders
Die Industriestadt Oberhausen erreicht einhundert Jahre nach ihrer Gründung, um das Jahr 1962, das Allzeit-Hoch von Bevölkerung und Beschäftigung in der Stadtgeschichte. Von 260.570 Einwohnern (1963) gehen 108.600 (1962) einer Erwerbstätigkeit nach. Die Zeiten sind schnelllebig und unvorstellbar dynamisch: Beim Kriegsende im April 1945 lebten in Oberhausen gerade einmal 102.000 Menschen, gemessen an 195.500 im Jahr 1939. Durch Kriegseinsatz, Gefangenschaft und Kinderlandverschickung ist die Stadt beinahe zur Hälfte entvölkert. Doch schon zum Jahresbeginn 1946 sind es bereits wieder 160.000 und am Jahresende 1946, die großen Wanderungsbewegungen sind weitgehend abgeschlossen, zählt Oberhausen bereits wieder 180.000 Einwohner.
Tabelle 1: Bevölkerung 1946 bis 2010
** Fortschreibung auf Grund der VZ vom 27. 5. 1970.
Quelle: Stadt Oberhausen, bereich 4 - 5 Statistik und Wahlen
Die ersten Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen in den alliierten Besatzungszonen unter dem Signum von Not, Hunger und Chaos. Eine geordnete Wirtschaftstätigkeit war unter diesen Bedingungen kaum möglich und auch an einen Wiederaufbau von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft noch längst nicht zu denken. Die Menschen in Deutschland waren mit der notdürftigen Sicherung ihrer unmittelbaren Lebensbedürfnisse vollauf beschäftigt. Die deutsche Gesellschaft war durch die Zerstörungen des Krieges und die sozialen Verwerfungen auf ein Entwicklungsniveau zurückgeworfen, das demjenigen von 100 Jahren zuvor nicht unähnlich schien. Geregelte Erwerbsarbeit war unter diesen Umständen kaum sinnvoll und wenig lohnend, doch pro forma zum Bezug von Lebensmittelkarten notwendig. Die offizielle Arbeitslosenrate lag daher 1947 mit rund 5 % nicht überraschend auf einem bemerkenswert geringen Niveau, da sich reguläre Arbeit kaum lohnte und die zur Verfügung stehende Zeit effektiver für Selbstversorgungsaktivitäten und Schwarzmarktgeschäfte genutzt werden konnte. Schwarzmärkte und Hamsterreisen spielten neben Hilfslieferungen der ehemaligen Kriegsgegner in der Überlebensgesellschaft der 1940er Jahre eine bedeutsame Rolle für die Lebensgestaltung der Bevölkerung, die Bedeutung einer geregelten Erwerbstätigkeit trat demgegenüber zurück. Die Fabriken, sofern sie nicht zerstört waren, standen zunächst weitgehend still. Es fuhr keine Eisenbahn, keine Tram, kein Postkasten wurde geleert, alle Telefone waren tot , so die Schilderung von Zeitzeugen. Rohstoffmangel und Zerstörungen standen der Aufnahme einer geregelten Produktion noch entgegen. Beschlagnahmungen Demontagen verschärften die Situation zusätzlich. Die Löhne waren so gering, dass es sich kaum lohnte zu arbeiten, zumal entwertetes Geld in großem Umfang zur Verfügung stand. Die offiziellen Preise waren auf niedrigem Niveau festgehalten, Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs unterlagen weiterhin wie in derNS-Zeit einer strikten Bewirtschaftung und waren nur gegen Marken zu erhalten, so dass ihr Kauf angesichts des ungeheuren inflationären Geldüberhangs finanziell keine Schwierigkeiten bildete. Anders war es auf den schwarzen Märkten, wo die Preise ein Vielfaches der administrierten Preise betrugen. Eine grundlegende Veränderung wurde erst nach der Neuordnung der Währungsverhältnisse möglich.2
Der Wandel in Oberhausen hat eine lange Geschichte
1890 wechselte der Ruhrbergbau großflächig über die Emscherniederung nach Norden und löste damit auch im Oberhausener Raum eine neue Dimension von Bergbau- und Siedlungstätigkeit im Sterkrader und Osterfelder Norden aus.
Abb. 1: Die Marktstraße um 1900 mit Straßenbahn
Abb. 2: Die Marktstraße um 1970 als Fußgängerzone
Abb. 3: Das Stadtzentrum südlich des Hauptbahnhofs mit dem Friedensplatz, um 2000
2. Die 1960er Jahre die Krise der Großindustrie beginnt
In den frühen 1960er Jahren zeigte die Wiege der Ruhrindustrie den Menschen das ihnen bekannte Gesicht einer von Stahlwerken, Schwerindustrie und Steinkohlezechen geprägten Stadt. Lärm, Qualm und Kohlestaub waren allgegenwärtig. Aber die Menschen in Oberhausen waren stolz auf das, was sie in den ersten 15 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgebaut hatten. Die Jahre des Wirtschaftswunders hatten ihren Höhepunkt in Oberhausen und im Ruhrgebiet erreicht. Die Firma Rück baute 1961 ihre erste Möbelhalle an der Straßburger Straße, in den mehr als 400 Gaststätten sorgten über 1.400 Beschäftigte für das leibliche Wohl und über 60 Trinkhallen, auch heute noch liebevoll die Bude genannt, waren der beliebte Treffpunkt um die Ecke. Die Oberhausener erlebten in diesem Jahrzehnt auch den Beginn eines anhaltenden Strukturwandels im täglichen Leben: Der Einzelhandel wandelte sich vom Tante-Emma-Laden zum Supermarkt das Warenangebot wurde vielfältiger und in modernisierten oder zum Teil neu erbauten bzw. erweiterten Geschäftsräumen angeboten (WAZ, 21. August 1971). 1968 wurden im Einzelhandel über 1.800 Arbeitsstätten mit fast 9.600 Beschäftigten gezählt.
Krisenanfällige Wirtschaftsstruktur
Monostrukturen, und eine solche ist auch die Montanindustrie, sind immer anfällig für wirtschaftliche und regionale Veränderungsprozesse. Das Wort von der Beständigkeit des Wandels gilt nicht nur für das Ruhrgebiet, sondern in besonderem Maße auch für Oberhausen.
Tabelle 2: Beschäftigtenentwicklung in ausgewählten Wirtschaftsbereichen in Oberhausen
* Stilllegung der Zeche Osterfeld 1992
Quelle: Stadt Oberhausen, Bereich 4 - 5 Statistik und Wohlen
Dramatischer Beschäftigungsabbau
In den Jahren von 1961 bis 1970 erlebte Oberhausen den höchsten Abbau von Industriearbeitsplätzen in der gesamten Stadtgeschichte. In diesem Zeitraum wurden insgesamt 18.600 Arbeitsplätze abgebaut. Betroffen hiervon waren neben dem Bergbau, mit dem Verlust von über 8.000 Arbeitsplätzen, insbesondere die Betriebe der Eisen- und Metallerzeugung sowie des Stahl-, Maschinen- und Fahrzeugbaus mit einem Rückgang der Mitarbeiterzahl um 7.000 Personen.
Mit der Schließung der Zeche Concordia beginnt eine neue Phase des Strukturwandels
Von 1952 bis 1957 hatten die Oberhausener Bergbaubetriebe mehr als 19.000 Beschäftigte. Seit dem Höchststand 1957 mit einer Belegschaft von fast 19.600 wurden im Zuge der damals beginnenden ruhrgebietsweiten Kohlekrise allein bis 1961 über 5.000 Arbeitsplätze abgebaut. Wachsende Kohlehalden, Feierschichten, die Einführung der Fünf-Tage-Woche auf den Zechen, die Liberalisierung des Energiemarktes mit der Folge steigender Importe von Kohle und Mineralöl waren erste Hinweise auf eine...