Burkhard Zeppenfeld
Das Werden der Industriestadt Oberhausen
Von den Anfängen der industriellen Entwicklung bis zum „Take off“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts
1. Wirklich eine Einöde: Die ökonomische Lage im Raum Oberhausen zu Beginn der industriellen Entwicklung
Als „wüste Haide“, „Einöde“ oder „trostlose Gegend“ beschrieben Reisende die Region, in der später die erste Eisenhütte des Ruhrgebiets entstehen sollte. Damit stellt sich die Frage: Wie sah die Region, die sich heute „Wiege der Ruhrindustrie“ nennt, vor dem Beginn des industriellen Zeitalters aus? Und weiter: Wovon lebten die Menschen in der Zeit, als sie noch nicht in die Zechen oder Hüttenwerke strömten?
„In der Gegend von Starkrat fangen die großen, wüsten Haiden an, welche bis eine Stunde vor Wesel fortlaufen, und den nicht mindesten Menschenfleiß zu ihrer Verbesserung anzeigen. Gleich einer Wüste Arabiens, allwo die nach Mekka wallfahrende muhamedanische Karavane nichts, als unbebaute wüste Blößen antrifft, so trifft man in dieser Gegend äußerst selten etwas anders als Reisenden. Der schlechte Sandgrund dürfte wohl bisher einen jeden abgehalten haben, eine vernünftige, zweckmäßige Verbesserung in der Benutzung zu befangen.“1
Abb. 1: Titelblatt des Bandes „Ansichten einer Reise durch das Clevische und einen Theil des Holländischen …“ von Christian Friedrich Meyer (1797)
„Etwa eine Stunde nach der Überfahrt [über den Rhein, B. Z.] fuhren wir durch eine weite Heidelandschaft, die sich bis Dorsten zog. Allein ein kleiner Weiler [möglicherweise Sterkrade, B. Z.] konnte diese Eintönigkeit durchbrechen. Dort war ein schönes Wirtshaus, in dem wir einen Halt zum Abendessen machten. Da es das einzige auf dieser Straße war, standen dort sehr viele Wagen, die den Weg sogar versperrten. In der Nähe waren mehrere Schmieden, die ich mir gern angesehen hätte, wenn ich Zeit gehabt hätte, aber wir brachen sofort auf und fuhren wieder durch diese Heide, die einem nur Wehmut einflößen konnte. Bis ins unendliche waren nur vereinzelte, absterbende Bäume zu sehen, sowie Sandhaufen, die vom Winde weggeweht wurden und die sich zwischen einigen Wacholderbäumen und dürrem Gras ausstreckten. Selten sahen wir ein paar Strohhütten, von armen Bauern bewohnt, die das Gras mähten, um daraus ihr Feuer zu machen. Wir fuhren die Höhen hinauf in der Hoffnung, einen angenehmeren Horizont zu entdecken. Es blieb, wie es war. So weit das Auge reichen konnte, war keine Spur von Ackerbau zu sehen. Das war wirklich eine Einöde.“2
„Eine trostlose Gegend! Unabsehbare Sandflächen, nur am Horizonte hier und da von kleinen Waldungen und einzelnen Baumgruppen unterbrochen. Die von Seewinden geschwängerte Luft scheint nur im Schlafe aufzuzucken. Bei jedem Hauche geht ein zartes, dem Rauschen der Fichten ähnliches Geriesel über die Fläche und säet den Sandkies in glühenden Streifen bis an die nächste Düne, wo der Hirt in halbsomnambuler Beschaulichkeit seine Socken strickt und sich wenig um uns kümmert, wie sein gleichfalls somnambuler Hund und seine weidenden Heidschnucken.
Schwärme badender Krähen liegen quer über dem Pfad und flattern erst auf, wenn wir sie fast greifen können. […] Aus einzelnen Wacholderbüschen dringt das klagende möwenartige Geschrill der jungen Kiebitze, die wie Tauchervögel im Schilf in ihrem stacheligen Asyle umschlüpfen und bald hier bald drüben ihre Federbüschel hervorstrecken. Dann noch etwa jede Meile eine Hütte, vor deren Tür sich ein paar Kinder im Sande wälzen und Käfer fangen und allenfalls ein wandernder Naturforscher, der neben seinem überfüllten Tornister kniet und lächelnd die zierlichen versteinerten Muscheln und Seeigeln betrachtet, die wie Modelle einer früheren Schöpfung verstreut liegen – und wir haben alles genannt, was eine lange Tagesreise hindurch eine Gegend belebt, die keine andere Poesie aufzuweisen hat, als die einer fast jungfräulichen Einsamkeit und einer weichen traumhaften Beleuchtung.“3
2. Die Gründung der St. Antony-Hütte oder: Wie westfälische Schinkendie Hüttenindustrie des Ruhrgebiets begründeten
Abb. 2: Freiherr Franz von Wenge zu Diek (1707 – 1788), nach einem Gemälde von Ernst Linnenkamp
In diese öde Landschaft brach Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Entwicklung ein.7 Voraussetzung dafür war die Nutzung eines unter der „Wüste“ und dem Moor lagernden Bodenschatzes, dem Raseneisenerz. Raseneisenerz ist ein Sumpferz, das in Niederungen von Flüssen und in Mooren vorkommen kann. Es bildet sich, wenn eisenhaltiges Grundwasser starken Schwankungen ausgesetzt ist und Eisenteilchen sich an Böden oder Wurzeln anlagern. Reichert sich das Eisen mit der Zeit an, entstehen bis zu wenige Dezimeter dicke Schichten, die über 50 Prozent Eisen enthalten können. Das Raseneisenerz befindet sich oberflächennah, das heißt etwa einen Spaten tief unter dem Boden, und verteilt sich über große Flächen. Sein Abbau greift weitflächig in die Bodenbeschaffenheit der Landschaft ein. Für die landwirtschaftliche Bodennutzung ist der Abbau dennoch lukrativ: Einerseits schafft er für die auf recht unfruchtbaren Böden arbeitenden Bauern eine zusätzliche Verdienstmöglichkeit. Andererseits wird der Boden nach Gewinnung des Erzes für eine landwirtschaftliche Nutzung fruchtbarer.8
Abb. 3: Clemens August von Bayern (1700 – 1761), Erzbischof und Kurfürst von Köln (ab 1723), Fürstbischof von Münster (ab 1719), Paderborn, Hildesheim und Osnabrück
Abb. 4: Erste Seite des am 17. Mai 1752 bei der Hofkammer in Bonn eingegangenen Antrags Franz von Wenges zur Genehmigung der Errichtung einer Eisenhütte (zeitgenössische Abschrift)
Abb. 5: Erste Seite der Urkunde des Erzbischofs von Köln vom 13. Juli 1753 mit der Genehmigung für von Wenge zum Bau der Hütte
Jetzt kam Bewegung in die Angelegenheit: Am 29. Mai 1753 erhielt von Wenge ein kurzes Schreiben, mit dem er mit dem Bergwerk belehnt wurde und das ihm die Errichtung einer Schmelzhütte und eines Hammerwerks erlaubte.23 Die zugehörige Urkunde stellte die Verwaltung am 8. Juni 1753 aus. Von Wenge erhielt nun endlich die „Belehnung mit dem in der gegend Buer, und Osterfeld Vestes Recklinghausen gelegenen, Zur Gottes Gnaden genannt, neuen Bergwerk“.24 Die Hofkammer in Bonn stellte die Urkunde „nach Bergrecht, und bergordnungsmäßig“ aus und gewährte von Wenge als Vergünstigung „drey gantze Zehend freye Jahren“. Nach Ablauf dieser Frist war er verpflichtet, die Abgaben voll „Bergordnungsmäßig“ zu entrichten.
Sechs Jahre bis zur ersten Schmelze
Als die beiden Urkunden von Wenge erreichten, hatte er mit dem Bau der Eisenhütte bereits begonnen.26 Schon am 26. Oktober 1752 übernahm er das für den Hüttenbau in Aussicht genommene Gelände am Elpenbach von der Gemeinheit der Osterfelder Bauern zur freien Verwendung. Als Gegenleistung entrichtete er eine feste jährliche Zahlung. Für den Bau der Anlagen gewann von Wenge Joan Antony von Graes aus Diepenbrock bei Bocholt. Dort war 1729 die Michaelishütte in Betrieb gegangen und es ist zu vermuten, dass von Graes dort Erfahrungen im Hüttenbau gesammelt hatte. Doch 1753 stoppte der gerade in Gang gekommene Bau bei Osterfeld schon wieder. Zum einen gab es offensichtlich Spannungen zwischen Baumeister von Graes und seinem Auftraggeber, so dass sich ihre Wege trennten. Zum anderen begann ein langjähriger Gerichtsprozess, der die Realisierung des Hüttenprojektes ernsthaft gefährdete.
Abb. 6: Besitzverhältnisse beim Bau der St. Antony-Hütte zur Zeit der Hüttengründung
3. Pleiten, Flucht und schlechter Guss:
Der lange Weg zur Rentabilität der St. Antony-Hütte
Im Herbst 1758 begann die erste Hüttenkampagne auf St. Antony. Franz...