: Joseph Incardona
: Das Game Roman
: Lenos Verlag
: 9783039257232
: Lenos Polar
: 1
: CHF 16.70
:
: Spannung
: German
: 300
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Anna sichert mit dem Verkauf von Brathähnchen den Lebensunterhalt für sich und ihren dreizehnjährigen, surfbegeisterten Sohn Léo. Ihr Zuhause: ein Bungalow an der Atlantikküste. Doch ihr einfaches, harmonisches Leben gerät plötzlich aus den Fugen: Nach einem Verkehrsunfall ist der alte Kastenwagen nicht mehr einsetzbar, Anna verliert ihre Einkünfte, Schulden häufen sich an. Léo kennt einen Ausweg: Eine Teilnahme am Game, einer Fernsehshow, die in der Gegend stattfindet und in den Medien gepusht wird, könnte die Rettung aus der Misere bedeuten. Die einzige Aufgabe: das zur Verfügung gestellte Auto im Wert von 50000 Euro anzufassen und nicht mehr loszulassen. Wer am längsten durchhält, gewinnt. In ihrer Verzweiflung lässt Anna sich darauf ein. Mit bissiger Ironie und treffender Schärfe karikiert Joseph Incardona den brutalen Zynismus unserer konsumorientierten Mediengesellschaft. Zugleich erzählt er mit viel Sensibilität von der Suche nach Würde in einer materialistisch geprägten Welt.

Joseph Incardona, geboren 1969 in Lausanne. Der Schriftsteller und Drehbuchautor veröffentlichte zahlreiche Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Comics, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Seine Romane 'Asphaltdschungel' und 'One-Way-Ticket ins Paradies' sind in deutscher Übersetzung im Lenos Verlag erschienen. 2014 führte er zusammen mit Cyril Bron Regie beim Film 'Milky Way'. Joseph Incardona lebt in Genf.

1. Hähnchen im Glück


Die schnurgerade Strasse wird von den Scheinwerfern des Kastenwagens erhellt. Man brauchte sie nicht, man sähe auch so genug; so weit das Auge reicht, beleuchtet der gelbe Mond die brachliegenden Felder. Eine Amerikanische Nacht. Durch das heruntergekurbelte Fenster auf der Fahrerseite strömt die milde Luft eines voreiligen Frühlings.

Mit der freien Hand tastet Anna auf dem Beifahrersitz nach ihren Zigaretten. Eine schleppende Melodie aus dem Radio untermalt die Fahrt; und wenn ich sage, es ist eine Amerikanische Nacht, dann meine ich, mit dem Blues, den Marlboros und der scheinbaren Weite könnte man fast denken, man wäre dort.

Die Zigarette steckt im Mund, jetzt sucht Anna ihr Feuerzeug. Sie lässt sich zu einem kläglichen Lächeln hinreissen, es war ein wenig einträglicher Tag fast ohne Kunden. Morgen wird sie die übrig gebliebenen Hähnchen aufwärmen und so tun, als hätte sie sie frisch auf dem Marktplatz gegrillt. So lässt man seine Prinzipien fahren, wenn einem etwas die Kehle zuschnürt.

Etwas – beziehungsweise: alles.

Wieder einmal endet ihr Tag in roten Zahlen. Erkläre einer mal den Kunden nach dem letzten Geflügelskandal um irgendwelche mit Tiermehl, Hormonen und Antibiotika vollgestopften Viecher, dass der eigene Lieferant ein lokaler Bauer ist. Ehrlich, Anna, deine Grübchen, die nussbraunen Augen? Die hast du für umsonst, gegen die Fernsehbilder von Legebatterien, die sich trotz sogenanntem »Tierwohllabel« als bessere Apotheken entpuppen, können selbst deine hautengen Jeans und dein wenig subtiler Push-up unter dem T-Shirt nichts ausrichten.

Und jetzt? Es ist trotz allem ein friedlicher Moment. Der Abend, die laue Luft in deinem Haar; wie die Sonne gemächlich vom Horizont entschwunden ist, um ihren Platz dem Mond zu überlassen. Zu Hause gleich ein eisgekühltes Bier, die Stille der Nacht – eine Atempause, bevor es morgen wieder losgeht.

Aber erst noch dem dringenden Verlangen nach einer Zigarette nachgeben, dem Ruf nach Tabak in den Lungen, so schädlich und doch so wohltuend: Finde, was du liebst, und lass es deinen Tod sein.

Nur bleibt das Feuerzeug unauffindbar. Anna klappt den Zigarettenanzünder auf, dieses so ungünstig in der Mittelkonsole platzierte Teil, an das heutzutage kaum noch jemand denkt. Endlich hört sie das Klicken und beugt sich in genau dem Moment vor, als von links das Wildschwein auftaucht; das Tier erstarrt im Scheinwerferlicht, zögert. Ein dumpfer Aufprall, wie wenn ein Boot auf einen Felsen aufläuft. Die abgewetzten Sohlen ihrer Turnschuhe rutschen über die Pedale, der Transporter kommt ins Schlingern und schiesst von der Strasse. Bei neunzig Stundenkilometern erweist sich der kaum einen Meter tiefe Seitengraben doch als verhängnisvoll: Das Fahrgestell desRenault Master mit seinem eingebauten Grill schabt über den Asphalt, die Funken sprühen wie bengalische Zündhölzer, das Blech faltet sich zusammen, Metall quietscht, die Doppeltür am Heck fliegt auf, und Dutzende von kopflosen Hähnchen verteilen sich auf der Strasse.

Der Wagen kommt zum Stehen.

Anna sitzt schr