Sonntag
Oma versäumte das Kusinentreffen. Deswegen war ihre Laune schlecht. Oma und die Kusinen waren alle um die siebzig, wie Otto Angler. Aber vom Hof und von was für einem. Den Großeltern, also Omas Großeltern, hatte in Jöllenbeck ungefähr alles gehört, worauf heute Siedlungshäuser standen, in ordentlichen Reihen. Das Bauernhaus selbst war erhaben, mit dem schönsten Fachwerk verziert, das Amanda je gesehen hatte. Es handelte sich um einen Sattelmeierhof, und als Omas Großvater im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts gestorben war, hatten acht Pferde seinen Sarg begleitet. So war es damals zugegangen. Dass es Bilder davon gab, Fotografien, bewies den Kusinen noch fünfundsechzig Jahre später, welch gutem Hause sie entstammten.
Wie die Villen am Johannisberg lag auch Jöllenbeck weit oben. Man hatte weitere Sicht als die Menschen in den Städtchen, die zu Fuße des Osnings entstanden waren. Bielefeld, Halle, Werther. Wer auf sich hielt, wohnte erhöht. Oma bezog das natürlich auch auf sich, weil Winkelshütten höher lag als Borgholzhausen. Aber das war eher eine Witzigkeit, wie so vieles bei ihr. Sie schuf Parallelen, wo keine waren, und erzählte sie wie Geschichten aus dem Heimatkalender. »Bauernscholastik« nannte es Gisbert, was nur ein Kompliment auf halber Höhe war. Aber immerhin.
Diese Großeltern jedenfalls hatten sechs Töchter gehabt und alle ordentlich verheiratet. Jede wieder mit einigen Kindern, wovon die Mädchen sich alle Vierteljahr unter der Bezeichnung »Kusinentreffen« gegenseitig zum Kaffeetrinken einluden.
Ein paar Kusinen waren zwischendurch gestorben. Sie hatten die Spanische Grippe gehabt, waren im Kindbett geblieben oder eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Das Leben war härter gewesen, die moderne Medizin nicht überall durchgesetzt. Die Ravensberger Menschen neigten außerdem zum Aberglauben, was in körperlicher Hinsicht schiefgehen konnte. Aber nicht eine war an Mangel gestorben. Auf dem Land gab es genug zu essen, und die meisten Bomben fielen woanders herunter. Der Nachteil: In größeren Städten passierte mehr. Keine Langeweile und schon früh Elektrizität.
Oma hielt »Moderne« für eine Abkürzung ihrer eigenen Lieblingsvokabel, welche die Modernisierung war. Alles, was durch Apparate schneller und sauberer wurde, gefiel ihr gut. Kochmaschine, Eisschrank, beim Friseur die Trockenhaube: Solche Technik mochte sie. Automobile hingegen, Wagen in der Alltagssprache, hielt sie für überflüssigen Luxus. Ihre Liebe galt stattdessen der Eisenbahn. Der großen sowieso, die von Köln nach Minden fuhr, von dort dann über Hannover bis nach Berlin. Aber auch die regionalen Züge mochte sie und ganz besonders die Kleinbah