: Bjarte Breiteig
: Der Tøyen-Effekt Roman
: Luftschacht Verlag
: 9783903422537
: 1
: CHF 11.60
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: Erzählende Literatur
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Tøyen-Effekt handelt von einem Osloer Stadtteil, und von einer Familie: von Mona, Jostein und ihrem Sohn Kalle. Sie betreiben seit mehreren Jahren ein Café in einem Bezirk, der lange als der berüchtigtste im ganzen Land galt. Rund um das Café existiert ein Netzwerk aus Menschen vieler verschiedener Kulturen, die einander helfen und sich in ihrer Nachbarschaft engagieren. Aber ist Tøyen ein solcher Ort geworden, wie sie ihn sich einst vorgestellt haben? Was ist passiert mit der weltoffenen, umsichtigen Nachbarschaft, in der einmal Platz war für alle? Jostein hat seinen Feuereifer verloren. Seine Fähigkeiten zur Zusammenfindung und sein brennendes Engagement verwittern, und Mona kämpft mit einer heimlichen Sehnsucht, Tøyen und ihn zu verlassen. Als Jostein nicht wie geplant von einer Reise zurückkehrt, spitzt sich die Situation zu, und im Lichte von Josteins Abwesenheit folgt der Roman Mona durch eine intensive Zeit im Verlauf eines Tages und einer Nacht, in einem Spannungsfeld zwischen Aufruhr und Selbstbefragung. Der Tøyen-Effekt ist ein hochaktueller, tiefschürfender Gegenwartsroman über eine Einwohnerinitiative, über die Suche nach einem Halt für die Liebe außerhalb der geschlossenen Familiensphäre und über den Glauben und den Zweifel an der Kraft der Gemeinschaft. »Der Tøyen-Effekt ist ein Roman, der sich leicht empfehlen lässt, der von Lokalkolorit, kultureller Toleranz und einem beeindruckenden politisch-menschlichen Engagement getragen wird.« STAVANGER AFTENBLAD

BJARTE BREITEIG, *1974 in Kristiansand/ Norwegen. Er studierte nach einem abgebrochenen Physikstudium Literatur in Trondheim, an der Skrivekunstakademiet und an der Universität von Bergen. Für seine Erzählungen wurden ihm zahlreiche nationale Preise verliehen. »Der Tøyen-Effekt« ist - neben seinen drei hochgelobten Erzählbänden und seinem ersten Roman »Meine fünf Jahre als Vater« (2016) - sein zweiter Roman im Luftschacht Verlag. Bjarte Breiteig lebt in Oslo.

SECHS TAGE IN LISTA (2003)


zumerstenmalhatte ich Jostein gesehen, als er am Rande des stillgelegten Militärflugplatzes Lista aus dem Bus gestiegen war und über die Ebene auf die Baracke zukam, vor der ich mich gerade mit den anderen in die Nachmittagssonne gesetzt hatte. Es war ein Sonntag Ende Juli, und wir waren als Leitungspersonen für das von der Gemeinde Vest-Agder organisierte Kultur-Jugendcamp angeheuert worden. Sein Rucksack war klein und leicht, und ich weiß noch, dass er auf mich den Eindruck machte von jemandem, der sich frei und unbeschwert durch die Welt bewegt. Ich selbst hatte zwei Stunden zuvor einen riesigen, schweren Trolley voller Bücher, für die ich vielleicht, vielleicht auch nicht Verwendung finden würde, über dieses flache Landstück geschleppt, und Sand und Erde waren von den Rollen heruntergerieselt, als ich ihn in die Baracke hinein bis in das mir zugewiesene Zimmer geschoben hatte. Ich erinnere mich noch, wie still wir dasaßen und ihn näher kommen sahen. Uns war nach dem ersten Kennenlerngespräch der Elan flöten gegangen, und niemand kommentierte die merkwürdige Art, wie er sich bewegte: gebückt und irgendwie gleitend, den Blick nach unten gerichtet auf etwas, das ich schließlich als die Videokamera erkannte, mit der er uns filmte. Er ging abseits des abgetretenen Pfades, die Beine in der spätsommerhohen Vegetation unsichtbar, ohne sich um Brennnesseln, Disteln, Kreuzottern oder Wespen zu kümmern. Als wäre esdie Kamera, die ihn lenkte, und nicht umgekehrt, schob er sie durch die Luft – als wäre er selbst lediglich ein Anhängsel, dem Willen der Kamera unterworfen. Diesen Filmausschnitt sollten Jostein und ich uns später noch oft ansehen und später auch Kalle vorspielen. „Schau – dort haben Mama und Papa sich zum ersten Mal gesehen.“ In dem Film gleiten Blumen und Grashalme am unteren Bildrand dahin, Vogelgezwitscher ist zu hören, und man bekommt einen deutlichen Eindruck von der weiten flachen Landschaft – sehrunnorwegisch. Vor einer Militärbaracke sitze ich als eine von drei verdatterten Gestalten, während er immer näher kommt. Ich trage ein hellblaues Sommerkleid, meine Haut ist goldgebräunt, der Blick in die Kamera gerichtet. Den Nacken leicht gekrümmt, bin ich trotz allem eine hübsche junge Frau.

Wer war ich damals, und wer war Jostein? Was haben unser Kennenlernen, das Verliebtsein, unsere Partnerschaft aus uns gemacht? Inwiefern haben wir uns gegenseitig beeinflusst? Was mussten wir aufgeben, indem wir uns anpassten, um einWir zu werden? Im Nachhinein ist leicht zu erkennen, dass Jostein schon damals große Mengen jener extravertierten Energie in sich hatte, die sich so neu anfühlte, als sie viele Jahre später in Tøyen zu seinem Persönlichkeitsmerkmal wurde. Auch in den dazwischen liegenden Studienjahren musste sie die ganze Zeit über latent vorhanden gewesen sein, aber unterdrückt, als wäre er damals, zusammen mit mir, in einen sozialen Winterschlaf gefallen, gefangen in einer Blase, in der es nur uns und das Studium gab. War es meine Schuld? Habe ich ihn dazu gebracht, eine Eigenschaft zu unterdrücken, die er vielmehr kultivieren hätte sollen? Als wir uns kennenlernten, war ich um vieles introvertierter als er. Ich war dreiundzwanzig. Ich hatte vor Kurzem meinen Vater nach einem kurzen Krebsleiden verloren und war der Auffassung, dieser Verlust würde mir eine Tiefgründigkeit verleihen, die außer mir niemand verstehen konnte. Ich hatte bereits einige Jahre studiert, hatte das Examen philosophicum abgelegt und Französisch an der Universität Agder studiert, danach Kunstgeschichte an der Universität Oslo, wo ich gerade ein Nordistik-Studium absolvierte. Was ich wollte, war schreiben. Im Jahr zuvor waren fünf Gedichte von mir in eine Debüt-Anthologie für junge Schreibende aufgenommen worden. Ich war einsam. Ich fühlte mich meinen Freundinnen aus Vennesla überlegen, Jeanett