Sokrates · Phaidros
Sokrates: Mein lieber Phaidros, wohin denn und woher?
Phaidros: Von Lysias, o Sokrates, dem Sohne des Kephalos. Und nun gehe ich spazieren vor die Stadtmauer hinaus. Denn ich habe vom frühen Morgen an die ganze Zeit dort sitzend zugebracht. Dabei folge ich deinem und meinem Freund Akumenos und mache meine Spaziergänge auf der Straße; denn, versichert er, diese seien gesünder als in den bedeckten Hallen.
Sokrates: Und mit Recht sagt er das, mein Freund! – Also war Lysias, wie es scheint, in der Stadt?
Phaidros: Ja, beim Epikrates, dort im Morychischen Hause, neben dem Olympion.
Sokrates: Was war denn nun da der Zeitvertreib? Oder, versteht sich, Lysias hat euch von seinen Reden aufgetischt?
Phaidros: Du sollst's erfahren, wenn du so weit Muße hast, weiter zu gehen und zu hören.
Sokrates: Wieso? Glaubst du denn nicht, daß es mir mit Pindaros zu reden, auchüber ein dringend Geschäft selbst gehe, deinen und des Lysias Zeitvertreib zu hören?
Phaidros: So gehe denn zu!
Sokrates: Und du magst reden!
Phaidros: Und gewiß, o Sokrates, wohl steht dir das Hören an. Denn die Rede, mit der wir uns die Zeit vertrieben, war, ich weiß selbst nicht auf welche Weise, eine Liebesrede. Lysias nämlich hat da von irgend einem der Schönen geschrieben, der versucht wird, nicht aber durch einen Liebhaber. Allein eben dies ist ja auch das Feine daran! Nämlich er sagt, man müsse sich lieber dem Nichtverliebten gefällig zeigen als dem Verliebten.
Sokrates: O der Edle! Daß er doch geschrieben hätte, man solle es einem Armen lieber als einem Reichen, und einem Älteren lieber als einem Jüngeren, und was sonst bei mir und den meisten von uns zutrifft! Ja, das wären einmal hübsche und gemeinnützige Reden! Ich freilich bin nun so begierig geworden zu hören, daß, wenn du auch, um deinen Spaziergang zu machen, bis nach Megara gingest und, wie Herodikos rät, an der Mauer angekommen wieder umkehrtest, ich dich doch nicht verlassen würde.
Phaidros: Wie sagst du, mein bester Sokrates? Glaubst du, was Lysias in vieler Zeit mit Muße verfaßt hat, er, der Gewaltigste im Schreiben unter allen jetzt Lebenden, – das werde ich Laie aus dem Gedächtnis hersagen können auf eine seiner würdige Weise? Dazu fehlt mir doch noch vieles; wie wohl ich es lieber wollte als viel Gold.
Sokrates: O Phaidros, ich müßte ja mich selbst vergessen haben, wenn ich den Phaidros nicht kennte! Aber das ist denn beides nicht der Fall. Gar wohl weiß ich, daß der, wenn er eine Rede des Lysias hörte, sie nicht nurein mal hörte, sondern daß er sie sich öfters und wiederholt sagen ließ, dieser aber ihm bereitwillig Folge leistete. Allein ihm war auch das nicht genügend, sondern zu guter Letzt hat er das Schriftchen zur Hand genommen und das, worauf er am meisten begierig war