: Gabriele Dietze
: Quarantäne-Kultur Fiktionale Echoräume von Covid-19
: Campus Verlag
: 9783593462769
: Politik der Geschlechterverhältnisse
: 1
: CHF 35.30
:
: Frauen- und Geschlechterforschung
: German
: 211
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Nach der Corona-Pandemie sind heute zwei Narrative dominant: im allgemeinen Diskurs ein Nichts-mehr-davon-wissen-woll n, im populistischen Diskurs eine Politisierung der Einschätzung des staatlichen Umgangs mit Covid-19 als Symptom eines angeblichen Systemversagens. Das Buch will der Amnesie des kulturellen Gedächtnisses über die Pandemiewirklichkeit entgegenwirken: Es rekonstruiert damalige Affekt- und Gefühlslandschaften am Beispiel von autofiktionaler Literatur, Hollywood-Blockbustern wie »Barbie« oder deutschen Fernsehformaten wie dem »Tatort«. Entgegen der Annahme, man habe schnell zur alten Normalität zurückgefunden, lassen sich dort zentrale Verschiebungen in den Domänen Freiheit, Liebe, Alter und Tod einer Neuen Normalität beobachten: Es werden zerstörerische Momente der okzidentalen Freiheitswut problematisiert, der Mythos der romantischen Liebe als Herrschaftsform herausgefordert, und man begegnet einer neuen Akzeptanz des Alters und einer Rückholung des Sterbens ins Leben.

Dr. Gabriele Dietze, geboren in Wiesbaden, war nach ihrem Studium der Germanistik und Philosophie in Frankfurt/M. von 1980 bis 1990 Lektorin für Gegenwartsliteratur im Rotbuch Verlag. Sie forschte und lehrte an der Humboldt Universität zu Berlin in Kulturwissenschaft, Gender- und Medienstudien. Zuletzt war sie Gastprofessin am Dartmouth College.

1.Unheimliche Präsenz


Wir sehen nicht die Dinge wie sie sind.
Sondern wir sehen sie, wie wir sind.

Talmud

Sehen und Zeigen


Die Untersuchung beginnt mit visuellen Fiktionen in Film und Fernsehen, in denen Covid-19 als Pandemienicht erwähnt wird oder nur camoufliert anwesend ist. Das heißt, man kann Aspekte der Pandemie, insbesondere Motive des Lockdowns,sehen, ohne dass Corona erwähnt wird. Etwas zuzeigen, ohne sich inhaltlich auf die Bedeutung des Gezeigten festzulegen, ist eine Eigenart der visuellen Kultur.

Die De-Thematisierung von Covid-19 entspricht der allgemeinen Tendenz der visuellen Unterhaltungsindustrie, die es, bis auf später zu diskutierende, signifikante Ausnahmen in der Romcom und in Krankenhausserien, vorzieht, die Pandemie im Skript nicht zu erwähnen. Allerdingszeigt sie Requisiten und Situationen, die auf Covid-19 zurückgehen, auf eine subtile Weise. Es werden Situationen der Einsperrung inszeniert, Fluchten reicher Menschen aus Gegenden großer Bevölkerungsdichte, und vor allem werden ikonische Pandemie-Zeichen wie Masken vielfältig und ohne jeden Bezug für ihre Notwendigkeit eingesetzt. Die Gründe der TV- und Filmproduzent:innen für dieses Entscheidungen sind vielfältig. Einer davon ist, dass Lockdown-Schilderungen und Pandemie-Requisiten wie Masken auf die Corona-Jahre hinweisen. Damit ermöglichen sie eine Datierung, die vermieden werden soll, um das Produkt möglichst lange ›aktuell‹ erscheinen zu lassen, beispielsweise in Wiederholungen oder in den Verwertungszyklen der Streaming-Industrie.

Trotzdem findet eine Art von Selbstverrat statt. Es erscheinen visuelle Ersatzzeichen, die als Corona-relevant zu erkennen sind, aber dekontextualisiert werden. Masken tauchen auf, die angeblich zum Staubschutz bei Hausrenovierungen gebraucht werden, oder es häufen sich Einsperrungen und Einschließungen, die an den Lockdown erinnern. Diese Tücke von Objekten und Situationen verweist auf den Prozess der Verneinung, der, wie Freud ausgeführt hat, ohne die Erwähnung des zu Verneinenden nicht auskommt, und damit etwas bestätigt, was bestritten werden soll.97 Die im Folgenden entfalteten Beispiele werden deutlich machen, dass eine vollständige Verdrängung nicht gelingt. Das mag daran liegen, dass der Angst- und Affekt-Stau der Pandemieperiode nach Ausdruck drängt, aber eine direkte Konfrontation mit dem Gebilde ›Pandemie‹ gescheut wird.

Es ist inzwischen unbestritten, dass die Covid-19-Pandemie und insbesondere die Lockdowns auf viele Zeitgenossen massive psychologische Auswirkungen hatten.98 Es kam zu Panikstörungen, Depressionen99 und auch zu Selbstmorden. Als grundlegendes Gefühl dominierte Angst. Sigmund Freud interpretiert Angst als einen »Knotenpunkt, an dem die verschiedensten und wichtigsten Fragen zusammentreffen«.100 Nach Susanne Lanwerd hat Angst im Zusammenhang mit der Pandemie drei Dimensionen: die Ungewissheit der Zukunft, die Fragilität der menschlichen Konstitution und die Sterblichkeit.101

Programmmacher:innen für populäre Fiktionen in Fernsehen und Film wollten dem Publikum keine Konfrontation mit pandemiespezifischen Ängsten zumuten. Das war keine heimliche Manipulation, sondern eine offen vorgetragene Strategie. Sie glaubten, dass Unterhaltung und Ablenkung nun besonders nötig seien. So kam es in vielen visuellen Unterhaltungsformaten von TV und Film zu einer Art von pädagogischer Selbstzensur. »Die Pandemie passt inhaltlich nicht zur Ausrichtung der Serie«, sagt Veronika Kolbeck. Die Telenovela STURM DER LIEBE sei ein modern erzähltes Märchen – mit einer zwar im Hier und Jetzt verorteten Handlung, die aber Belastendes dieses Alltags ausspare. Auch bei Unter uns gilt diese Maxime. »Wir wollen die Welt heiler erzählen, als sie draußen ist«, betont Produzent Reinhardt.102

Bei den auf Eskapismus basierenden Formaten wie den Telenovelas war die Realitätsverleugnung keine Überraschung. Aber bei den auf Wirklichkeitsbezug ausgelegten Genres wie Krankenhausserien oder Polizeiserien wie demTatort, der sonst vom Publikum wegen der Tagesaktualität der Problemstellungen geschätzt wird, fiel dasÜbersehen von Covid-19 stark ins Auge. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass das Publikum Ersatzobjekte zu sehen bekam. Nach Freud sind Ersatzobjekte Statthalter-Figurationen, die zwar scheinbar mit dem echten Schmerzpunkt nichts zu tun haben, aber mit dem Eigentlichen in »sonderbarsten, äußerlichen und ungebräuchlichsten Assoziationen in Verbindung«103 stehen. Die Pandemie wurde damit in vielen Artefakten der Unterhaltungsindustrie zu einer ›Leerstelle‹,104 die mit seltsamen visuellen Ersatzobjekten gefüllt wurde.

Tatort Pandemie


DIE DRITTE HAUT


Ein gutes Beispiel für dieses Hervorbrechen von Ersatzobjekten ist das Flaggschiff des deutschen Qualitätsfernsehens, derTatort Er ist ein sehr spezifisches und immer wieder umstrittenes Format der deutschen Selbstbetrachtung und -vergewisserung. Die Krimiserie wurde in einer Gesamtwürdigung als »Lagerfeuer und Sittenbild der Republik«105 bezeichnet aber auch immer wieder als verglommen und erloschen abgetan. Die Reihe war ursprünglich konzipiert worden, um Kenntnis und Verständnis über und für regionale Spezifika zu wecken – die Kommissar:innen samt Amtsstuben sitzen meist in den Landeshauptständen und pflegen zumindest mit unteren Chargen lokale Dialekte – um damit sozusagen eine Bundes-Einheit in der Länder-Vielfalt herzustellen.

Darüber hinaus entwickelte sich die Polizeiserie auch zu einem Gradmesser unterschiedlicher gesellschaftlicher Problemlagen und ›Fortschritte‹. So gab es imTatort nach einer sehr patriarchalen Anfangsphase bald mehr Kommissarinnen als im wirklichen Leben.106 Es wurde, zumindest männliche, Homosexualität zunächst zaghaft als legitimes Begehren thematisiert und im Weiteren auch in Hauptrollen akzeptiert;107 ebenso wurden People of Color aus Nebenrollen ins Rampenlicht befördert, wie zuletzt im HannoveranerTatort, wo Florence Kasumba als schwarze Kommissarin neben Maria Furtwängler die zweite Geige spielen darf.108

Diese Sonderrolledes Tatorts als volkspädagogischem Unternehmen hat einige wenige Redaktionen dazu bewogen, den im deutschen Fernsehen fast vollständigen Bann von Corona-Inhalten in Unterhaltungsformaten zu durchbrechen. Am 6. Juni 2021 wurde DIE DRITTE HAUT (RBB), gesendet, ein Sozialdrama über Wohnungsnot, Mietspekulation und Obdachlosigkeit. Corona wurde nicht thematisiert,109 abergezeigt. Alle Darsteller trugen Masken. Es war die Zeit, wo die meisten Leute selbstgenähte, sogenannte Community-Masken benutzten, weil es noch keine FFP2-Normmasken gab. Die vielfältigen geblümten, chirurgischen oder schwarzen Masken wurden mit einer etwas undurchsichtigen Systematik auf- und abgesetzt, unters Kinn geschoben und mal in Innenräumen entfernt, mal draußen angelegt oder umgekehrt. Die Pandemie wurde damit zu einer Art aufdringlicher Requisite, einem ständig neu auftauchenden widerspenstigen Bedeutungsträger, der als ›leerer Signifikant‹ den Bildraum zwar durch seine Ungewöhnlichkeit dominierte, aber dessen Funktion, dem Ansteckungsschutz zu dienen, nie erklärt wurde. Das bewegte einen ungnädigen Kritiker zur Überschrift seiner Rezension »Ich will keine Masken sehen im Tatort«.110

Der Rezensent geht noch weiter und ruft das gesamte Publikum auf,Tatorte mit Masken zu boykottieren. So schimpft er:

In einer ermüdenden Deutlichkeit schreien diese Filme ihre vermeintliche, aber letztlich vollkommen leere Aktualität heraus, dass selbst den beflissensten Corona-Maßnahmen-Befolger Anflüge von Querdenkerei heimsuchen....