: Alexander Thiele
: Machtfaktor Karlsruhe Das Bundesverfassungsgericht im System des Grundgesetzes
: Campus Verlag
: 9783593462165
: 1
: CHF 16.20
:
: Öffentliches Recht, Verwaltungs-, Verfassungsprozessrecht
: German
: 139
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das Bundesverfassungsgericht genießt großes Vertrauen in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Bisweilen richtet sich ihr Blick, in der Hoffnung auf die Lösung gesellschaftspolitischer Streitfragen, nahezu sehnsüchtig nach Karlsruhe. In der Öffentlichkeit ist aber kaum bekannt, wie dieses Gericht zusammengesetzt ist, wie es funktioniert und wie es zu seinen einflussreichen Urteilen und Beschlüssen kommt. Alexander Thiele, renommierter und in den Medien breit vernetzter Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht an der BSP Business and Law School in Berlin, gibt in diesem Buch - rechtzeitig zum 75. Jubiläum von »Karlsruhe« - eine kritische Einführung zur wichtigsten judikativen Institution der deutschen Verfassungsordnung. Dabei zeigt sich: Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Rechtsprechung maßgeblich zur Stabilisierung der deutschen Demokratie beigetragen. Immer wieder hat dieser machtvolle Akteur allerdings den Raum für politische Gestaltung zu stark verengt, ohne dass dies im Grundgesetz zwingend angelegt gewesen wäre. Zukünftig sollte es daher - so Thiele, der die Bundesregierung 2023 beim Haushaltsurteil und 2025 in den Verfahren zur Änderung der Schuldenbremse vertreten hat - darum gehen, mehr Politik zu wagen und Karlsruhe damit etwas weniger häufig ins Spiel zu bringen. - konzise und kritische Einführung für Studierende der Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft, aber auch für allgemein interessierte Leser:innen - in den Medien breit vernetzter Autor, der die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hat - 2026: 75. Jubiläum des Bundesverfassungsgerichts

Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht, an der BSP Business and Law School in Berlin.

2.Zur Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit


Die Errichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit steht am Ende der Entwicklung des modernen demokratischen Verfassungsstaates.14 Sie wird bisweilen, allerdings aus einer spezifisch deutschen und ihre Bedeutung im internationalen Vergleich überzeichnenden Perspektive, auch als »Schlussstein des konstitutionellen Rechtsstaats« bezeichnet und setzt neben der Existenz einer modernen (normativen) Verfassung zugleich deren Vorrang gegenüber dem politischen Prozess und der übrigen Rechtsordnung voraus (was historisch keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt).15 Die Verfassung fungiert in einer solchen politischen Ordnung damit als rechtlich-verbindliche »Rahmenordnung« (Ernst-Wolfgang Böckenförde), an die sich die durch sie begründeten Institutionen einschließlich des einfachen Gesetzgebers zu jedem Zeitpunkt zu halten haben.

Eine Verfassungsgerichtsbarkeit muss es in einer solchen »Verfassungsvorrangordnung« allerdings nicht zwingend geben, denn dieser Vorrang »lässt sich auch ohne Verfassungsgerichtsbarkeit schützen«.16 Mit Großbritannien, den Niederlanden und einigen skandinavischen Ländern finden sich bis heute denn auch (zugegeben wenige) demokratische Staaten, in denen die Kontrolle der Einhaltung der (zum Teil ungeschriebenen) Verfassung eher dem politischen Prozess selbst und der (medialen) Öffentlichkeit, aber keiner eigenständigen und unabhängigen Institution überantwortet wird. Auch in Frankreich ist die Verfassungsgerichtsbarkeit aus historischen Gründen eher schwach ausgeprägt. Die Entscheidung, diese Kontrolle einem machtvollen unabhängigen Gericht zuzuweisen, ist insofern alles andere als selbstverständlich, zumal der politische Prozess dadurch in der Regel stark verrechtlicht wird, jedenfalls stark verrechtlicht werden kann.17 Insbesondere die sogenannte Normenkontrolle, die das eigentliche Wesen einer modernen Verfassungsgerichtsbarkeit ausmacht18 und es dieser ermöglicht, Gesetze des demokratisch legitimierten Gesetzgebers für nichtig zu erklären, kann zu einer erheblichen Einschränkung demokratischer Gestaltungsmöglichkeiten führen. Sie bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung, die bis heute immer wieder in Frage gestellt und in den vergangenen Jahren tatsächlich offener und unter stärkerer Betonung voneinander abweichender Verfassungstraditionen und Legitimitätserwartungen und weniger unter Rückgriff auf ein vermeintlich allgemein gültiges verfassungstheoretisches »Ideal- oder Leitmodell«19 diskutiert wird.

Ausgangspunkt: Marbury v. Madison


Die historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit nahm ihren Ausgangspunkt im ersten modernen demokratischen Verfassungsstaat der Welt: den Vereinigten Staaten von Amerika. Ohne moderne (demokratische) Verfassung gibt es keine moderne Verfassungsgerichtsbarkeit. Der Vorrang dieser Verfassung wird in den USA in der im Jahr 1789 in Kraft getretenen (überraschend kurzen) Verfassung allerdings nicht explizit normiert. Zwar findet sich in Art. VI eine Bestimmung, die die Verfassung zum »supreme law of the land« erklärt. Allerdings bezieht sich diese vor allem auf das Verhältnis des gesamten Bundesrechts (einschließlich des einfachen Bundesrechts) zu den Rechtsordnungen der heute 50 Gliedstaaten – eine für föderale Systeme durchaus typische Regelung (siehe etwa Art. 31 GG), die aber vom Vorrang der Verfassung auch für die Bundesebene, insbesondere gegenüber dem Bundesgesetzgeber zu unterscheiden ist. Mit dem Supreme Court installierten die Gründungsväter der USA ein höchstes Bundesgericht. Als Verfassungsgericht wird dieses aber nicht bezeichnet und die Kompetenz zur Normenkontrolle, die, wie dargelegt, das zentrale Merkmal einer modernen Verfassungsgerichtsbarkeit ausmacht, wird dem Supreme Court in der Verfassung ebenfalls nicht zugewiesen. Woraus ergibt sich dann aber das Recht der neun Richter:innen am Supreme Court, Gesetze des Kongresses auf ihre Verfassungsmäßigkeit nicht nur zu prüfen, sondern im Anschluss ggf. auch für in den USA unanwendbar zu erklären?

Die Antwort entwickelte der Supreme Court in der vielleicht bedeutendsten Entscheidung der modernen Verfassungsgeschichte: »Marbury v. Madison« aus dem Jahr 1803. Der Supreme Court sprach sich diese weitreichende Zuständigkeit darin eigenmächtig zu. Schon an dieser Entscheidung wird die Machtfülle erkennbar, die aus der unabhängigen Stellung und der Kompetenz zur letztinstanzlichen Interpretation der Verfassung für den Supreme Court im Besonderen und für Verfassungsgerichte im Allgemeinen folgt: Ein Verfassungsgericht entscheidet letztverbindlich stets auch über die sich aus der Verfassung ergebende Reichweite der eigenen Kompetenzen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die ihm zugewiesenen Kompetenzen nach seiner Errichtung immer wieder extensiv und innovativ interpretiert und seinen Einfluss auf den politischen Raum dadurch ausgeweitet (darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein).

Abb.2: Der seit 1790 bestehende Supreme Court in Washington D. C. ist der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten und das einzige Gericht, das explizit in der Verfassung der USA vorgesehen ist. Er besteht aus neun Richtern, die nach Nominierung durch den Präsidenten vom Senat bestätigt, und danach auf Lebenszeit ernannt werden.

Quelle: Wikicommons

Der Sachverhalt, der Marbury v. Madison zugrunde lag, ist kompliziert und muss an dieser Stelle nicht näher entfaltet werden20 – es ging um die unterbliebene Ernennung eines Friedensrichters am Ende der Amtszeit des zweiten US-Präsidenten John Adams. Wegweisend für die weitere Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit war jedoch, was der damalige Chief Justice John Marshall in seiner Entscheidungsbegründung zur allgemeinen Funktion einer Verfassung und zur daraus folgenden Rolle des Supreme Court im institutionellen Verfassungssystem (verbindlich) festhielt:

»Sicherlich betrachten alle, die schriftliche Verfassungen verfasst haben, diese als das grundlegende und übergeordnete Recht der Nation, und folglich muss die Theorie einer jeden solchen Regierung sein, dass ein Gesetz der Legislative, das der Verfassung widerspricht, nichtig ist […]. Wenn also ein Gesetz im Widerspruch zur Verfassung steht, wenn sowohl das Gesetz als auch die Verfassung auf einen bestimmten Fall anwendbar sind, so dass der Gerichtshof diesen Fall entweder in Übereinstimmung mit dem Gesetz und unter Missachtung der Verfassung oder in Übereinstimmung mit der Verfassung und unter Missachtung des Gesetzes entscheiden muss, muss der Gerichtshof entscheiden, welche der beiden kollidierenden Regeln für den Fall gilt. Dies gehört zum Wesen der richterlichen Pflicht. Wenn also die Gerichte die Verfassung zu beachten haben und die Verfassung über jedem gewöhnlichen Akt des Gesetzgebers steht, muss die Verfassung und nicht ein solcher gewöhnlicher Akt den Fall regeln, auf den beide anwendbar sind.«

Anders gewendet: Die Verfassung genießt als verbindliche Rechtsnorm (notwendig) Vorrang vor jeglichem sonstigem (nunmehr nachrangigem »einfachem«) Recht und die Richter:innen haben daraus folgend die Pflicht, auch Gesetze des Kongresses auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen und im Konfliktfall für unanwendbar zu erklären – die moderne Verfassungsgerichtsbarkeit war geboren.

Entwicklung in Deutschland


Bis diese Ideen sich weltweit durchsetzen würden, sollte es noch dauern (und auch in den USA spielte diese besondere Kompetenz des Supreme Court anfangs keine herausgehobene Rolle). Zur Erinnerung: Wir befinden uns am Ende des 18. Jahrhunderts in einer Zeit, in der Europa von absoluten und bestenfalls aufgeklärten Monarchien geprägt ist und große Teile der Welt als Kolonialgebiete unter europäischer Fremdherrschaft stehen. Hier war weder für formale Verfassungen noch für eine moderne Verfassungsgerichtsbarkeit ...