Zeiten wissen
An dieser Stelle könnte eine erwartbare Allerweltsweisheit stehen, die vermeintlich überzeitliche Gültigkeit suggeriert. Es könnte sich um das berühmte Eingangszitat aus Goethes »Faust I« handeln, also nachdem Zueignung, Prolog und Vorspiel des Dramas abgearbeitet sind, in dem sich die titelgebende Hauptfigur ebenso bekanntlich wie bitterlich darüber beklagt, alle verfügbaren Wissenschaften studiert zu haben, nur um nun festzustellen, den großen Zusammenhang immer noch nicht begreifen zu können.
Diese Klage ließe sich durchaus auf das ThemaZeit übertragen. Die Menschheit verfügt über enorm viel Wissen, das sich unter diesem Substantiv rubrizieren lässt, so dass der Eindruck aufkommen könnte, es handele sich immer um die eine und selbe Zeit, sobald davon die Rede ist. Und trotzdem ist es bisher nicht so recht gelungen, eine singularische Bestimmung dieses Gegenstands vorzulegen, die endlich eine zufriedenstellende Antwort auf die Was-ist-das-eigentlich-Frage geben würde.
Die Erkundigung, was Zeit denn nun sei, ist nicht nur ein Mittel, um unbedarfte Passant:innen in größte Verlegenheit zu bringen, sobald ihnen bei einer überraschenden Straßenumfrage ein farbig bepüscheltes Mikrofon unter die Nase gehalten wird, sondern ist tatsächlich ein großes, sogar ein sehr großes Problem. Das lässt sich an unterschiedlichen Stellen lernen. Das »Oxford Handbook of Philosophy of Time« deutet allein schon aufgrund der Nennung des englischen Eliteuniversitätsstandortes wenig subtil an, dass hier Tiefschürfendes zu erwarten ist. Und wenn der Herausgeber dieses Handbuchs dann auch noch Craig Callender heißt, ein auf nahezu schon unheimliche Weise passender Name für einen der tatsächlich bedeutendsten Vertreter der Zeitphilosophie,17 dann erhält die dort geäußerte Feststellung noch einmal zusätzliches Gewicht: »Time is one of the last great mysteries.«18
Auch Lee Smolin, theoretischer Physiker und Spezialist in Fragen der Quantengravitation, stellt fest, diese »täuschend einfache Frage« nach der Zeit sei »das wichtigste Einzelproblem, das sich der Naturwissenschaft stellt, während wir immer tiefer in die Grundlagen des Universums eindringen. Alle Rätsel, mit denen Physiker und Kosmologen ringen – vom Urknall bis zur Zukunft des Universums, von den Rätseln der Quantenphysik bis zur Vereinheitlichung von Kräften und Teilchen –, laufen auf das Wesen der Zeit hinaus.«19
Wahrscheinlich muss man für die Bedeutung des Gegenstandes gar keine Werbung mehr machen, weil schließlich der enorm populäre Stephen Hawking in seiner ebenso enorm populären »Kurzen Geschichte der Zeit« schon festgehalten hat, dass die Suche nach dem Verständnis der Zeit gleichbedeutend sei mit der Suche nach dem Anfang und möglicherweise dem Ende des Universums, und diese wiederum der erfolgreichen Verbindung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik gleichkomme. Sei das erst gelungen, dann »werden wir uns alle – Philosophen, Naturwissenschaftler und Laien – mit der Frage auseinandersetzen können, warum es uns und das Universum gibt. Wenn wir die Antwort auf diese Frage fänden, wäre das der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft – denn dann würden wir Gottes Plan kennen.«20
Und weil bei solchen Auflistungen autoritativer Aussagen eine Stimme keinesfalls fehlen darf, folgt nun noch … Oder nein, ich lasse das obligate Einstein-Zitat an dieser Stelle beiseite und sage nur im bewährten Konjunktiv: Hier könnte ein Einstein-Zitat zur Zeit als einem sich dem Verständnis verweigernden Rätsel stehen, wahrscheinlich sogar ein quellenmäßig belegtes, nicht nur eines von den vielen frei erfundenen.21
Anstatt dieses nach Fleißarbeit riechende Pflücken in der Florilegien-Sammlung fortzusetzen und die Liste möglicher Zeit-Zitate zu verlängern, mit denen im schlechteren Fall nur der Beleg für die Schwierigkeiten erbracht wäre, wissenschaftliche Ergebnisse für den Alltag außerhalb akademischer Kreise wirksam werden zu lassen, könnte sich die Frage nach den Intentionen hinter all diesen Bemühungen aufdrängen. Wäre die Lösung des Zeit-Rätsels tatsächlich der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft? Oder eher ein weiterer Beweis für die Endlosigkeit menschlicher Hybris? Und da offenbar bis auf Weiteres auf die physikalischetheory of everything22 noch gewartet werden muss, bleibt die Zeit bis dahin – ja, was eigentlich: Hawkings Unbekannte im göttlichen Plan?
Während viele Zeit-Forschende sich recht umstandslos darüber verständigen können, den Zeitbegriff nicht auf ein singuläres Verständnis reduzieren oder in einer einzigen Bestimmung zusammenfassen zu können, geht die Alltagspraxis üblicherweise davon aus, dass die Zeit eine einzige und einheitliche sei. Und selbst bei Zeit-Spezialist:innen kann man sich nicht ganz sicher sein, ob sie ihre komplexen Zeitmodelle nicht umstandslos beiseiteschieben, sobald sie ihre Forschungseinrichtungen verlassen haben, um sich beispielsweise darüber zu ärgern, wie lang es denn schon wieder dauert, bis endlich der nächste Bus kommt, um sie nach Hause zu bringen.
Ansonsten sind sie sich aber durchaus darüber einig, dass, so der Wissenschaftstheoretiker Klaus Mainzer, »ein einseitiger Reduktionismus des Zeitbegriffs z.B. auf die Physik […] ebenso unangemessen ist wie die Behauptung, daß der Zeitbegriff der Naturwissenschaften nichts mit der Zeit in den Geistes- und Kulturwissenschaften zu tun habe. Es zeichnet sich vielmehr ein komplexes Netzwerk von Zeitrhythmen ab, in dem sich physikalische, biologische, psychologische und soziale Prozesse überlagern und beeinflussen.«23
Oder der Philosoph Jean-Luc Nancy, der die Unbegreifbarkeit der Zeit als Beleg dafür sieht, »wie sehr letztlich die moderne Welt hinsichtlich der Zeit eine doppelte Revolution vollzog: Einerseits verwandelte sie die Zeit in einen Gegenstand, der sich berechnen lässt – von der Yoctosekunde (10-24 Sekunden) bis hin zur Yottasekunde (1024 Sekunden), die 32 Billiarden Jahren entspricht –, und andererseits verstreute sie gewissermaßen die ›Dimension des Seins‹, indem sie ihr einen Status der Subjektivität, der ›gelebten Zeit‹ oder der ›multiplen Zeitlichkeiten‹ von Personen oder Kulturen zuschrieb. Jedem seine unechte Zeit. Zwischen den zwei Polen des Gemessenen und des Erlebten sedimentierte sich die Zeit als eine verwirrende Entität.«24 (Und in der Tradition einer wohl unausrottbaren akademischen Angewohnheit habe ich entgegen meiner eigenen Ankündigung die Liste der Zitate doch schon wieder verlängert.)
Faltet man die zahlreichen Einsichten zu Zeitfragen auf die Fragenden sowie auf den sie beschäftigenden Gegenstand zurück – und das Falten wird in meiner Argumentation späterhin noch expliziert –, dann ergeben sich zwei Vermutungen. Erstens ist das wissenschaftliche Arbeiten selbst eine Variante des praktischen Zeitens. Wenn es darum geht, Zeiten reflektierend zu beschreiben, dann muss eine solche Beschreibung auch berücksichtigen, dass sie selbst gerade tut, was sie beschreibt. Und flugs ist man in einer dieser verwirrenden Rückkopplungsschleifen gefangen, die sich den Zeiten offenbar so unwiderstehlich anzuheften verstehen; wieder zeigt sich, dass den Zeiten nicht zu entkommen ist, selbst oder gerade dann nicht, wenn sie zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden. Zweitens kann ein kursorischer Blick in einige wissenschaftliche Antworten zum Thema Zeit zeigen, dass diese Unfähigkeit zur Beantwortungder Frage nachder Zeit weniger ein Problem, sondern selbst schon Teil der Antwort ist.
Verabsolutierungen
Ist nun alles ganz klar oder alles gänzlich verwirrend, wenn ich konstatiere, dass der Zeiten sehr viele sind? Lässt sich nicht nur die Frage stellen, wie spät es ist, sondern muss dies auch noch durch die Nachfrage ergänzt werden, aufgrund welchen Zeitmodells die Antwort erfolgt? Wann also sind wir? Und in welchem Wann sind wir? Und welches Wir kann sinnvoll nach einem Wann fragen?
Es könnte durchaus sein, dass die Auseinandersetzung mit solchen ungewohnten Fragen angesichts der massiven temporalen Herausforderungen, wie sie durch die Klimakrise gestellt werden, unumgänglich werden. Der Verdacht liegt nahe, dass die Organisation des Wann,...