Zweites Kapitel
Zwei Frauen
»Frauen! Richtet nur nie des Mannes einzelne Taten!
Aber über den Mann sprechet das richtende Wort!«
Schiller.
Mit einem zur Eile drängenden Gefühl beschleunigte Olga ihre Reisevorbereitungen. Erst als sie ihre Koffer, die, bis auf geringes Handgepäck, ihre gesamte nur zu bewegliche Habe bargen, fortgeschickt hatte, wurde ihr freier zumute.
Sie wunderte sich selbst, daß sie nichts mit dieser Stadt verband, – daß sie hier fast so fremd geblieben war, wie »daheim«, in dem schlesischen Winkelstädtchen. War es die Wurzellosigkeit ihrer Rasse, deren Träger sich Kulturen zueigen gemacht hatten, die nicht ihrem Blute entstammten, – war es die besondere Atmosphäre gerade dieser Stadt, die die Konturen der Dinge weichlich ineinander wob, wie die Formationen der umliegenden Hügellandschaft? – Olga hatte in den Jahren ihres hiesigen Aufenthaltes keinen Kreis gefunden, mit dem sie echte und notwendige Vertraulichkeit verband. Nur einer einzigen Person war sie näher gekommen. Gerade heute, am Tage nach der »Abschiedsfeier«, die sie mit ihren Freunden im Champagnerkeller abgehalten hatte, fühlte sie, wie wenig lebendig die Beziehungen waren, die sie mit ihnen einten. Und doch war sie diesen Verwandten gut. Aber es war nicht der starkfließende Strom verwandter Willenskräfte, – es war nur, wie eine wachsame Teilnahme an dem noch nicht erfüllten Maß ihres Geschickes, die sie mit ihnen und wohl auch jene mit ihr verband.
Gerade die Öde, mit der der heutige Tag sie umgab, mit der er sie, wie durch einen luftleeren Raum, fernhielt vom lebendigen Anteil an ihm, war mehr als ein gewöhnlicher Katzenjammer nach einer durchwachten Nacht. Es war das deutliche Bewußtsein des inneren Versagens, das uns dort, wo wir gütige Gefühle zu schulden glauben, peinvoll bedrückt. Der Augenblick, in dem das Gefühl eines Abschlusses erschreckend deutlich wird, war gekommen. Hier war eine Epoche, deren verschiedene Etappen dem Gedächtnis, scharf umzeichnet, entsprangen, deutlich beendet. Ihr war, als wäre der Additionsstrich unter die einzelnen Posten zu machen und es verbliebe nur noch, die Summe zu ziehen.
An solchen Tagen, wie dieser, – sie waren in der letzten Zeit immer häufiger gewesen, – richtete sich ihre Aufgabe riesengroß und wie unerklimmbar vor ihr auf.
Ihre Aufgabe? Wußte sie sie denn?
Ohne ein deutliches Lebens-oder gar Berufsprogramm zu haben, fühlte sie doch, daß es irgendwo in der Zeit ein Feld gab, auf dem sie und gerade sie ihre Kräfte auszubreiten hätte. Wie dunkle, durch Jahrhunderte vorbereitete Erfahrungen, drängten Erkenntnisse durch sie ans Licht, – wollten durch sie Gestalt bekommen.