»Fräulein Bolton, bitte zum Diktat.« Die dunkle Stimme ihres Chefs riss Jennifer aus ihren trüben Gedanken. Dr. Kürten war es nicht gewohnt zu warten. Sie musste sich zusammenreißen.
Gestern Abend hatte sie einen Brief vorgefunden, der ihr ganzes Leben verändern konnte. Vielleicht – denn Jennifer wusste nicht, wie sie sich entscheiden sollte. Am unangenehmsten aber war ihr, dass sie ihren Chef, bei dem sie, erst seit vier Wochen als Privatsekretärin beschäftigt war, schon um Urlaub bitten musste. Sie war so glücklich gewesen, diese Stelle zu bekommen. Zudem war Dr. Eric Kürten ein angenehmer Chef. Sachlich und zurückhaltend.
Jennifer Bolton war ein ungewöhnlich apartes Mädchen. Kluge graugrüne Augen belebten ein ovales, leicht gebräuntes Gesicht, das verriet, dass sie ihre Freizeit an der frischen Luft verbrachte und nicht in verräucherten Lokalen.
Jennifer war vierundzwanzig Jahre alt, sah aber noch jünger aus. Deshalb hatte Dr. Kürten anfangs wohl auch gezögert, sich für sie zu entscheiden, aber bald schon hatte er gemerkt, dass er es nicht zu bereuen brauchte. Jennifer war zuverlässig und tüchtig.
Deshalb verwunderte es ihn umso mehr, dass sie heute einen zerstreuten Eindruck machte, dass ihre Gedanken immer wieder abirrten.
Dr. Eric Kürten war ein guter Psychologe. Wenn ein Mädchen wie Jennifer Bolton unkonzentriert war, musste es tiefere Gründe haben. Ein Mann?, überlegte er, während er sie prüfend musterte.
Er selbst war erst Anfang Dreißig, wirkte aber gesetzt, da er die verantwortungsvolle Position nach dem plötzlichen Tode seines Vaters früh hatte einnehmen müssen. Zu früh, um richtig jung sein zu können.
»Fehlt Ihnen etwas, Fräulein Bolton?«, fragte er freundlich.
Es war eigentlich das erste Mal, dass er ein persönliches Wort an sie richtete. Jennifer war überrascht.
»Verzeihen Sie, bitte«, erwiderte sie leise, »aber ich möchte Sie nicht mit meinen Sorgen belästigen.«
»Sie belästigen mich nicht. Immerhin kennen wir uns doch schon vier Wochen«, er lächelte. »Sie sind eine tüchtige Sekretärin, warum sollten Sie nicht auch einmal Ihr Herz ausschütten, wenn Ihnen danach zumute sein sollte?«
Jennifer errötete. »Es ist mir sehr unangenehm, Herr Doktor, aber ich müsste Sie um einen Tag Urlaub bitten. Ich erhielt gestern die Nachricht, dass mein Bruder und seine Frau ums Leben gekommen sind.«
»Oh, das ist schlimm«, sagte er betroffen. »Meine Anteilnahme.«
»Ich habe meinen Bruder seit sechs Jahren nicht mehr gesehen«, kam es stockend über ihre Lippen. »Er befand sich mit seiner Frau auf einer Expedition in Asien. Sie kamen bei diesem furchtbaren Erdbeben um. Ich wusste bisher gar nicht, dass sie dort waren.«
Er sah sie nachdenklich an. »Sie hatten kein enges Verhältnis zu Ihrem Bruder?«, fragte er behutsam.
»Er lebte nur für die Wissenschaft wie seine Frau. Das Schlimme ist, dass sie zwei Kinder hinterlassen, die in einem Heim untergebracht sind. Ich kenne die Kinder gar nicht. Und nun werde ich plötzlich vor die Entscheidung gestellt, ob ich die Vormundschaft für die Zwillinge übernehmen will.« Sie seufzte tief. »Aber ich halte Sie nur auf«, murmelte sie.
»Sie haben sonst keine Angehörigen mehr?«, fragte er behutsam.
Jennifer schüttelte den Kopf. »John war zwölf Jahre älter als ich. Finanziell hat er sehr gut für mich gesorgt, bis ich auf eigenen Füßen stehen konnte. Aber er war eben Forscher. Darüber hat er wohl auch seine Kinder vergessen.«
»Wie alt sind sie?«, fragte er.
Jennifer überlegte. »Sie müssen ungefähr vier Jahre alt sein. Etwas älter vielleicht. Wahrscheinlich sind sie schon ziemlich lange in diesem Heim. Der Nachlassverwalter bat mich um einen Besuch. Deshalb brauche ich den Urlaub. Ich kann es in einem Tag schaffen, wenn ich nach Frankfurt fliege.«
»Frankfurt – ich muss übermorgen geschäftlich dorthin«, erklärte er zu ihrer Überraschung. »Sie können mich begleiten. Es ist mir sogar recht lieb, denn meine französischen Sprachkenntnisse sind nicht so gut wie die Ihren. Sie erinnern sich, es geht um die Fusion mit dem Werk in Nantes. Oder wollten Sie schon morgen fahren?«, erkundigte er sich.
»Nein, ich habe noch keinen Termin genannt. Ich möchte ungern meine Stellung aufs Spiel setzen, Herr Doktor.«
»Das brauchen Sie nicht«, erwiderte er ruhig. »Ich wechsle ungern und habe mich bereits an Sie gewöhnt. Also verbinden wir unsere Interessen miteinander.«
*
Später in ihrer kleinen Wohnung, überlegte Jennifer, ob John ihr eigentlich etwas bedeutet hatte. Gewiss, er war ihr Bruder, aber der Altersunterschied hatte sie immer getrennt. Als sie geboren wurde, war er schon im Internat. Als sie die Schule verließ, hatte er sich bereits einen Namen als Forscher gemacht und war verheiratet. An seiner Hochzeit hatte sie nicht teilgenommen, da kurz zuvor ihre Mutter gestorben war, bei deren Beerdigung sie John zum letzten Mal gesehen hatte. Seine Frau hatte sie nie kennengelernt, und die Geburt der Zwillinge hatte er ihr beiläufig mitgeteilt.
Nun war er tot und seine Frau auch. Zurückgeblieben waren zwei Waisen, die außer ihr keinen Familienangehörigen mehr hatten. Es war ein eigentümliches Gefühl, denn eigentlich liebte Jennifer Kinder, aber diese beiden kannte sie gar nicht. Odette und Oliver, etwas mehr als vier Jahre alt, das war alles, was sie von ihnen wusste, außer dass sie in einem Kinderheim untergebracht waren, das den Namen »Kinderheim Sophienlust« trug. Alles andere würde sie erst durch den Nachlassverwalter erfahren.
Nett war es von Dr. Kürten gewesen, dass er sie so freundlich angehört hatte. Ein eigenartiger Mann war er schon. Erstmals, seit Jennifer bei ihm beschäftigt war, zerb