Glaubenswelten
Familienausflug nach Sarmenstorf
An einem strahlenden Sonntag erfüllten meine Eltern den Wunsch von Tante Anna, Onkel Hochwürden Anton Kaufmann und nicht zuletzt meiner Schwester Julie, sie im Pfarrhof zu Sarmenstorf zu besuchen. Julia war 1941 mit vier Jahren von meinen Eltern an Kindesstatt Tante Anna und Onkel Anton überlassen worden, die seinetwegen auf eine Ehe verzichtet hatte. Von ihr später.
Mein Vater beeilte sich, seine Kühe zu versorgen, die Mutter richtete ein Znüni zum Mitnehmen und prüfte, ob alle Kinder gute Schuhe trugen, denn der Weg über den Sentenhof und Niesenberg zog sich lange hin, war steil und steinig.
Wir sechs Kinder, Anna, Rita, Burkard, Josef, Fridolin und ich, marschierten los, der Vater meist zuvorderst, die Mutter oft beschwichtigend: «Bald sind wir auf dem Niesenberg, dann sehen wir hinunter auf das Pfarrhaus, wo Julie, Lieseli, Tante Anna und Onkel Anton auf uns warten. Julie freut sich seit Tagen auf euch. Ob ihr auch gewachsen seiet.»
Immer wieder entdeckte Burketli im Wald kleine Holzhütten, wo er wohnen wollte, Josef sammelte dicke Haselstecken, die er bis zum Pfarrhaus mitschleppte, Rita und ich pflückten Margeriten, Hahnenfuss und die Wegwarten am Bord, die am Ziel in unseren schweissigen Händen allerdings verwelkt waren. Ich musste zuweilen meinen rechten Schuh ausziehen, der Fuss schmerzte in der Hitze und vom langen, staubigen Marsch.
Gegen Mittag standen wir am Waldausgang ob Sarmenstorf – und wirklich: Unten war das ersehnte Pfarrhaus! Mame stiess einen Freudenschrei aus: «Lueged, lueged, e Fahne usem Pfarrhuus för öis!» Wirklich, Onkel Anton schwenkte eine Fahne aus dem hohen Fenster des Obergeschosses. Mein Vater ironisch: «Eine Prozessionsfahne?» Wir winkten mit unseren Taschentüchern und Hüten zurück und johlten unsere Kehlen heiser.
Die Begrüssung verspüre ich noch heute. Tante Anna umarmte mich herzlich und pflegte meinen kranken Fuss. Küsschen und Umarmungen gewährten die Eltern den Kindern nur selten, am ehesten beim Abschied ein Kreuzeszeichen auf die Stirn, das die Gedanken zum Guten leiten sollte. Tante Lieseli verwöhnte uns mit Getränken, Onkel Anton führte uns in den Festsaal, wo der lange Tisch mit weissen, schimmernden Tischtüchern gedeckt war. In der Mitte stand eine grosse Porzellanschale, gefüllt mit prallen Kirschen, Chlöpfer, erklärte der Onkel.
Und Julie? Sie strahlte, ging benommen von einem Geschwister zum andern, bestürmte uns mit Fragen, musterte uns, rühmte, wie gross wir geworden seien. Ich bemerkte sofort, dass Julie die schönsten Schuhe trug. Wir wurden fürstlich verpflegt, zum Dessert gab es eine köstliche gebrannte Creme – das war in unserer Familie üblich, weil die meisten Zutaten, Milch, Eier, Rahm und Zucker, im Haus waren.
Onkel Anton erinnerte sich gerne an sein Elternhaus. So berichteten meine Eltern über den Zustand des Viehs, die Bungert mit den verschiedenen Apfelbäumen, das Bächlein, das mitten durch die Wiese rieselte, das eingebrachte Heu, den Gemüsegarten. Wir Kinder strichen durch den Garten, belagerten den Holzschopf und versuchten Julie vom nahen Abschied abzulenken.
Nur allzu bald rief uns die Mutter zusammen. Julie stand in der Mitte aller, Tränen liefen ihr über die Wangen, Anton versuchte zu trösten. Wir trennten uns schmerzlich, beim Abschiedwinken erfasste uns eine leise Wehmut, und wir fragten uns, warum unsere Schwester denn nicht mit uns kam.
Der Pfarrer und seine Schwester
Anna Kaufmann, geboren am 11. August 1884, wuchs mit ihren drei Brüdern Anton, Josef (mein Grossvater) und G