: Maria Galizia-Fischer
: «Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, wo das ist?» Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend
: Limmat Verlag
: 9783038552901
: 1
: CHF 17.70
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wenn Maria Galizia-Fischer erzählt, nimmt sie uns mit in eine Welt, die wir so nicht mehr kennen: Als viertes von zehn Kindern wird sie 1933 im katholischen Oberfreiamt geboren. Bereits auf der anderen Seite der Reuss, wo die Reformierten leben, beginnt die Fremde. Die Familie lebt auf einem Bauernhof, weitgehend selbstversorgt und vom Milchzahltag. Als die Maul- und Klauenseuche ausbricht, ist die Existenz bedroht, Grossonkel und Pfarrer Anton schickt Schokolade und Segenssprüche. Vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erfährt man über das Radio der gichtkranken Tante Babette im Obergeschoss, eine italienische Hausiererin erzählt vom Grauen der Judenverfolgung. Schweigend pflegt der Vater seine Tiere, der Knecht Vinzenz flucht, die Grossmutter flüstert Stossgebete. In Marias Erinnerung werden die Menschen und Orte der Vergangenheit lebendig, wir gehen mit ihr den einstündigen Weg in die Schule, wo man ihr das Latein verbietet, weil sie ein Mädchen ist, und staunen, wie die Eltern sie später dazu ermutigen, Lehrerin zu werden, und sie trotz finanzieller Schwierigkeiten bei ihrer Ausbildung unterstützen. Wir folgen Maria auf Freizeitausflüge und zu Vorstellungsgesprächen, auf den Pilatus und in die Töchterschule und begleiten sie dabei, wie sie mit viel Mut und grosser Neugier ihren Weg in ein Leben zwischen Tradition und Selbstbestimmung findet.

Maria Galizia-Fischer, geboren 1933 in Merenschwand als viertes von zehn Kindern, besuchte die Töchterschule und das Hauswirtschaftsseminar in Aarau und arbeitete als Hauswirtschaftslehrerin in Merenschwand und Beinwil. Verheiratet mit dem Bildhauer Rico Galizia, dessen Werk sie nach seinem Tod verwaltet. Maria Galizia ist Grossmutter, Urgrossmutter, Gastgeberin, Zuhörerin, Erzieherin, Kunst- und Literaturliebhaberin.

Glaubenswelten


Familienausflug nach Sarmenstorf


An einem strahlenden Sonntag erfüllten meine Eltern den Wunsch von Tante Anna, Onkel Hochwürden Anton Kaufmann und nicht zuletzt meiner Schwester Julie, sie im Pfarrhof zu Sarmenstorf zu besuchen. Julia war 1941 mit vier Jahren von meinen Eltern an Kindesstatt Tante Anna und Onkel Anton überlassen worden, die seinetwegen auf eine Ehe verzichtet hatte. Von ihr später.

Mein Vater beeilte sich, seine Kühe zu versorgen, die Mutter richtete ein Znüni zum Mitnehmen und prüfte, ob alle Kinder gute Schuhe trugen, denn der Weg über den Sentenhof und Niesenberg zog sich lange hin, war steil und steinig.

Wir sechs Kinder, Anna, Rita, Burkard, Josef, Fridolin und ich, marschierten los, der Vater meist zuvorderst, die Mutter oft beschwichtigend: «Bald sind wir auf dem Niesenberg, dann sehen wir hinunter auf das Pfarrhaus, wo Julie, Lieseli, Tante Anna und Onkel Anton auf uns warten. Julie freut sich seit Tagen auf euch. Ob ihr auch gewachsen seiet.»

Immer wieder entdeckte Burketli im Wald kleine Holzhütten, wo er wohnen wollte, Josef sammelte dicke Haselstecken, die er bis zum Pfarrhaus mitschleppte, Rita und ich pflückten Margeriten, Hahnenfuss und die Wegwarten am Bord, die am Ziel in unseren schweissigen Händen allerdings verwelkt waren. Ich musste zuweilen meinen rechten Schuh ausziehen, der Fuss schmerzte in der Hitze und vom langen, staubigen Marsch.

Gegen Mittag standen wir am Waldausgang ob Sarmenstorf – und wirklich: Unten war das ersehnte Pfarrhaus! Mame stiess einen Freudenschrei aus: «Lueged, lueged, e Fahne usem Pfarrhuus för öis!» Wirklich, Onkel Anton schwenkte eine Fahne aus dem hohen Fenster des Obergeschosses. Mein Vater ironisch: «Eine Prozessionsfahne?» Wir winkten mit unseren Taschentüchern und Hüten zurück und johlten unsere Kehlen heiser.

Die Begrüssung verspüre ich noch heute. Tante Anna umarmte mich herzlich und pflegte meinen kranken Fuss. Küsschen und Umarmungen gewährten die Eltern den Kindern nur selten, am ehesten beim Abschied ein Kreuzeszeichen auf die Stirn, das die Gedanken zum Guten leiten sollte. Tante Lieseli verwöhnte uns mit Getränken, Onkel Anton führte uns in den Festsaal, wo der lange Tisch mit weissen, schimmernden Tischtüchern gedeckt war. In der Mitte stand eine grosse Porzellanschale, gefüllt mit prallen Kirschen, Chlöpfer, erklärte der Onkel.

Und Julie? Sie strahlte, ging benommen von einem Geschwister zum andern, bestürmte uns mit Fragen, musterte uns, rühmte, wie gross wir geworden seien. Ich bemerkte sofort, dass Julie die schönsten Schuhe trug. Wir wurden fürstlich verpflegt, zum Dessert gab es eine köstliche gebrannte Creme – das war in unserer Familie üblich, weil die meisten Zutaten, Milch, Eier, Rahm und Zucker, im Haus waren.

Onkel Anton erinnerte sich gerne an sein Elternhaus. So berichteten meine Eltern über den Zustand des Viehs, die Bungert mit den verschiedenen Apfelbäumen, das Bächlein, das mitten durch die Wiese rieselte, das eingebrachte Heu, den Gemüsegarten. Wir Kinder strichen durch den Garten, belagerten den Holzschopf und versuchten Julie vom nahen Abschied abzulenken.

Nur allzu bald rief uns die Mutter zusammen. Julie stand in der Mitte aller, Tränen liefen ihr über die Wangen, Anton versuchte zu trösten. Wir trennten uns schmerzlich, beim Abschiedwinken erfasste uns eine leise Wehmut, und wir fragten uns, warum unsere Schwester denn nicht mit uns kam.

Der Pfarrer und seine Schwester


Anna Kaufmann, geboren am 11. August 1884, wuchs mit ihren drei Brüdern Anton, Josef (mein Grossvater) und G