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Wie soll ich diese berauschenden Akkorde bloß einfangen? So sehr ich mich auch bemühe, ihre verklingenden Töne zu fassen: Sie lösen sich noch schneller auf als die Bilder meines Traums, an die ich mich wenige Sekunden nach dem Aufwachen schon nicht mehr erinnern kann. Und das ist nicht die Schuld meiner Hand, die seltsam schwer auf meinem Venusberg liegt.
Aber um keine falschen Erwartungen zu wecken: Erstens herrscht bei mir in dieser Region sowieso seit etlichen Wochen Funkstille und zweitens interessiert mich Erotisches, seit ich meinen Roman beendet habe, keinen Deut mehr. Was im Moment aber auch völlig unwichtig ist. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist: Wieder einschlafen kannst du vergessen. Trotzdem versuche ich es ein paar lange Minuten, bevor ich mir schließlich doch mein Smartphone angele. Es ist sieben Minuten nach Mitternacht und der Geruch von feuchten Gehwegplatten und frisch gegossenen Blumen weht durch das offene Fenster.
Hat in meinem Traum jemand nach mir gerufen? Ja, ich glaube schon. Aber wer? Inessa? Yunai? Nein, es war eine Männerstimme. Eine Stimme, wie ich sie mir für Sabri ausgedacht hatte: samtig, tief, aber offen und klar. Doch auch das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen.
Eifersüchtig lausche ich auf Inessa neben mir. Typisch, sie schläft ihren Schönheitsschlaf, hamstert Zufriedenheit und Abenteuerlust und schnorchelt zufrieden wie ein kleines Kind mit ein wenig Schnupfen. Morgen werden wir am Strand durch Schwärme von begehrlichen Blicken pflügen, nur wegen ihrer Figur.
Eine Vespa sägt durch die Stille.
Komm Laura, bau' am besten noch ein paar Grübelschleifen ein! Warte, bis du rot siehst, damit du in acht Stunden kaputt und ranzig in den Tag starten kannst.
Nein?
Na gut, dann tu was dagegen! Womit – Spoiler-Alarm! - die Ereignisse beginnen, die das verpappte, spießige Arrangement meines Lebens gründlich umstoßen werden. Nur meines Lebens? Nein, nicht nur. So exquisit ist meine Geschichte nämlich nicht. Inessa betrifft sie ebenfalls. Selbstverständlich auch Yunai. Und erst recht Nina.
Luuk und Ramon dürfen in diesem Reigen natürlich auch nicht fehlen. Genauso wie Augusto und Ehsan. István natürlich, Benne, Cit … aber jetzt ist Schluss mit Spoilern, denn das Mondlicht draußen flüstert: Raus aus dem Bett.
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Ich schlüpfe in pinke Espandrillos, schnappe mir den Bademantel. Schon auf dem Flur ergreift mich ein Frösteln und mein Herz beginnt zu bubbern. Aber irgendetwas treibt mich weiter, als wollte ich mir etwas beweisen. Ich husche die Steintreppe herunter, vorbei an der notbeleuchteten Rezeption, dem barocken Standspiegel und der Bücherwand mit den Kreta-Bildbänden.
Jetzt sogar mal ohne Lippenstift, flüstere ich vor mich hin und bin stolz, nicht in den Spiegel zu blicken. Ist ja Nacht. Komm bloß nicht noch auf die Idee, deswegen wieder umzukehren. Und dein Haar brauchst du auch nicht bürsten.
Kaum bin ich aus dem Haus, empfängt mich ein harzig duftiger Nachtwind. Er streichelt mein Gesicht, schlüpft unter den Bademantel, betupft meine Kniekehlen. Wow, ein Gefühl, als würden mich Lichtpixel kitzeln. So was hatte ich ja noch nie.
Weiter. Unsere Pension liegt am Hang, eingebettet in das Grün von Thymianmatten, Tamarisken und pilzförmigen, türkischen Kiefern. Als ich jedoch die kalten Gehwegplatten erreicht habe, bleibe ich abrupt stehen. Eine meiner Eigenarten, die mich seit früher Kindheit umtreibt. Mitten in der Bewegung kann ich gleichsam einfrieren, weil mich irgendwelche Fragen anspringen. Meist ganz banales Zeug, zum Beispiel, ob ich gerade das rechte oder linke Bein beim Gehen belaste. Ich stehe dann da, als würde ich auf etwas lauschen, war aber immer nur wenige Sekunden dauert.
Jetzt aber sind die Fragen riesig: Hallo Laura, willst du das Schicksal herausfordern? Weil du die wahnsinnige Hoffnung hast, dass hier irgendetwas à la Zeus passiert? Hoffst du auf einen neuen, zweiten Deal mit ihm? Schließlich bist du im Gegensatz zu deinem Roman jetzt ganz real auf Kreta …
„Quatsch!“ Und das spreche ich laut in den Wind und setze meinen Weg fort. Wenige Schritte später aber holt mich erneut ein, was ich weder abschütteln noch fassen kann.
Und das ist?
Dass just in derselben Stunde, in der ich mit dem Schreiben fertig geworden bin, Inessa mit Kreta-Tickets in den Fingern bei mir geklingelt hat. Denn das kann doch nur ein Zeichen sein, oder? Dafür, dass Höheres im Spiel ist?!
Mich umtanzen die Gedanken und Gefühle wie sich verwirbelnde bunte Wollfäden beim Schleudern: Meine Güte, hier ist auf einmal alles echt, irgendwie magisch …. und so male ich mir aus, morgen früh mein Adressbuch durchzuscrollen und unter dem Buchstaben Z, wie Zeus, tatsächlich die mir bekannte Nummer aus meinem Roman zu finden.
Komm, gib´s zu! Mein Herz tut einen Sprung und für eine halbe Sekunde glänzt alles wie Gold. Du hast die gleichen Sehnsüchte wie deine Roman-Lara. Wie Isabel, Chiyoko, Senait und so viele Frauen zwischen Nord- und Südpol, für die es ohne gelingende Beziehung kein wirkliches Glück gibt.
Und? Ist irgendetwas falsch daran? Schließlich sind wir alle mit der Lizenz auf die Welt gekommen, unser Leben für eine gewisse Zeit mit irgendwem zu teilen und irgendwann irgendwelchen Sex zu haben. Im Prinzip ist alles so einfach. In Frieden leben, gemeinsam was aufbauen und sich ab und zu mal etwas gönnen und richtig lieb haben. Hinterher wollen wir in den Spiegel schauen können, um uns lächelnd zu beküssen: War schön mit dir. Ist immer noch schön.
Ob in Latex oder auf dem Index, Sex genießt sogar der Pontifex. Sind so Sätze, die mir spontan beim Stehenbleiben einfallen. Und wie im Roman habe ich auf einmal die Düfte glimmenden Holzes in der Nase, sogar Sabris Knize Ten.
Hey, was wirst du gleich noch alles erleben?
Endlich habe ich trockenen Sand unter den Füßen. Dreihundert Meter neben mir schiebt sich der wie in einer Traumszene illuminierte Matala-Felsen ins Meer. Doch so phantastisch er auch aussieht, ich will dorthin, wo es dunkel ist und ich den sich im Meer spiegelnden Vollm