: Alain Claude Sulzer
: Haydn! Eine literarische Sinfonie mit Alfred Brendel, Lily Brett, Elke Heidenreich, Daniel Kehlmann, Eva Menasse, Margriet de Moor, Péter Nádas u.v.a.
: Aufbau Verlag
: 9783841239280
: Die Andere Bibliothek
: 1
: CHF 15.00
:
: Klassik, Oper, Operette, Musical
: German
: 324
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

»Meine Sprache versteht die ganze Welt.« JOSEPH HAYDN.

Joseph Haydn galt als bedeutendster Komponist seiner Zeit. Seine 77 Lebensjahre waren erfüllt vonschöpferischer Vitalität und der Lust am musikalischen Experiment

In diesem Band erkunden20 namhafte Autorinnen und Autoren das Leben und Werk des musikalischen Tausendsassas.Alfred Brendel entdeckt den Humor in Haydns Musik,Eva Menasse erzählt von knalligen Anfängen und donnernden Schlüssen,Elke Heidenreich spürt Frau Haydn nach. Einemusikalisch-literarisc e Revue, malpersönlich-biographisch /b>, mal essayistisch, malerzählerisch-literarisc , immerüberraschend undhöchst unterhaltsam

Hera sgegeben vonAlain Claude Sulzer. Mit Eva Gesine Baur, Alfred Brendel, Lily Brett, Zora del Buono, Philippe Claudel, Mathias Énard, Nora Gomringer, Elke Heidenreich, Franz Hohler, Daniel Kehlmann, Lorenz Langenegger, Eva Menasse, Thomas Meyer, Margriet de Moor, Péter Nádas, Hanns-Josef Ortheil, Bruno Preisendörfer, Elke Schmitter und Albrecht Selge. 

In Zusammenarbeit mit Haydn2032 / Joseph Haydn Stiftung Basel.

Lily Brett

Die Macht der Musik


Mehrere Jahre meines Lebens habe ich damit zugebracht, Musiker zu interviewen. Rockmusiker, Rockstars. Ich war eine sehr junge Journalistin. Eine Rockjournalistin. Ich habe in London, New York und Los Angeles für eine australische Rock-and-Roll-Zeitschrift gearbeitet. Ich habe Jimi Hendrix interviewt, Janis Joplin, Mick Jagger, Brian Jones, Jim Morrison, Sonny and Cher und The Mamas and The Papas. Die Liste geht endlos weiter.

Das war Mitte bis Ende der sechziger Jahre. Tag für Tag interviewte ich Rockmusiker. Und die Nächte verbrachte ich bei Konzerten. Rockkonzerten. Bei kleinen und großen Konzerten. Oft habe ich Spätveranstaltungen in kleinen Kellerlokalen besucht. Manchmal habe ich die Musiker, über die ich schrieb, auf ihrer Tournee begleitet. Im Lauf einer Tournee der englischen Rockband The Troggs habe ich den Norden Englands ausgiebig zu sehen bekommen.

Sollte sich das glamourös anhören, dürfen Sie mir glauben, dass es das nicht war. Die Musik war sehr laut, und die Unterbringung war alles andere als glamourös.

Aber die Interviews machten mir Spaß. Die meisten Musiker waren halbwegs nett zu mir. Mick Jagger hat mir seine Küche gezeigt und hat mir eine Tasse Tee gemacht. Cher hat sich meine künstlichen Wimpern mit Diamantbesatz geliehen und fand, dass wir einander sehr ähnlich sähen. Sonny hat das richtiggestellt. Er hat gesagt, ich sei viel zu dick, um auszusehen wie Cher.

Als in Jimi Hendrix’ überheizter und feuchter Garderobe meine frisch geglätteten Haare sich wieder zu ihren normalen Locken ringelten, hat er mir ausführlich erklärt, wie er dafür sorgte, dass seine Locken nicht zu unordentlich wurden.

Ich habe mit Mama Cass ihre Gewichtsprobleme erörtert und mich mit Janis Joplin über schwierige Mütter ausgetauscht. Ich habe Brian Jones auf den Beinen gehalten, als er während eines Interviews, in dem ich kein Wort aus ihm herausbekommen konnte, plötzlich umfiel. Es ging ihm gut. Er hatte nur zu viel von dem Rauschgift intus, das er geraucht oder geschluckt hatte.

Ich habe mich auf die Interviews immer gründlich vorbereitet. Ich habe lange Listen von Fragen erstellt. Ich hatte schreckliche Angst, nicht genug Fragen zu haben. Ich wollte sichergehen, genug Fragen zur Hand zu haben. Der Prominentenjournalismus, der heutzutage die größten Auflagen garantiert, steckte damals noch in den Kinderschuhen. Bei den Interviews waren keine Public-Relations-Leute anwesend. Keine Manager, Assistenten oder Personenschützer. Man musste keine Verträge unterzeichnen, die einem vorschrieben, welche Fragen man stellen durfte, was man schreiben durfte und wo man es veröffentlichen durfte.

Die Herausgeber meiner Zeitschrift waren weit weg in Australien. Sie ließen mir völlig freie Hand bei den Interviews und dem, was ich schrieb.

Einen Musiker nach dem anderen habe ich gefragt, ob sie an Gott glaubten. Und wenn ja, warum. Der eigene Unglaube machte mir zu schaffen, und Leute, die unbeirrbar glauben konnten, faszinierten mich und machten mich ein bisschen neidisch. Ich fragte die Musiker nach ihren Vorstellungen von Liebe und Ehe und nach ihrem Verhältnis zu ihren Eltern. Ich habe Mick Jagger gefragt, ob er einen Zusammenhang zwischen Sexualität und Gewalt sehe. Ich weiß nicht, warum ich ihn das gefragt habe. Ich war keine Expertin in Sachen Sexualität, und über Gewalt wusste ich nur aus zweiter Hand Bescheid.

Ich wusste damals nicht, dass die meisten Journalisten, die sich mit Rockmusik beschäftigten – fast ausnahmslos Männer –, Rockstars zu fragen pflegten, welches ihre Lieblingsfarbe sei oder was sie zum Frühstück äßen. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ungewöhnlich meine eigenen Fragen waren.

Ich habe keinen der Musiker nach seiner Musik gefragt. Auf diesen Gedanken kam ich gar nicht. Die Musik interessierte mich zweifellos nicht. Während der Konzerte steckte ich mir heimlich die Finger in die Ohren, wenn die Musik zu laut wurde. Das musste ich so unauf‌fällig wie möglich tun, denn ich saß meistens in der ersten Reihe. Ich habe nie gesehen, dass jemand anders versucht hätte, sich die Ohren zuzuhalten.

Ich bin in einem Zuhause aufgewachsen, in dem es keine Musik gab. Meine Eltern waren beide fünf Jahre lang im Ghetto von Łódź interniert gewesen, bevor sie nach Auschwitz kamen und dort getrennt wurden.

Meine Mutter hatte vier Brüder, drei Schwestern, Mutter und Vater, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen. Sie wurden alle ermordet. Mein Vater hatte eine Schwester, Brüder, Mutter und Vater und so viele Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Neffen und Nichten. Auch sie wurden ermordet.

Diese Listen von Toten sind in meine Arterien eingeätzt. Ich sage sie inwendig auf. Manchmal füge ich die Namen hinzu. Ich sage sie auf wie eine Hymne oder ein Gebet.

Ich habe Auschwitz immer wieder besucht. Ich suche Auschwitz auf, wie andere Leute in die Kirche gehen. Ich gehe hin, um den Seelen der Toten die Ehre zu erweisen. Um die Seelen der Toten zu umarmen. Das tue ich, obwohl ich weder an Gott noch an ein Jenseits glaube.

Ich bin nach dem Krieg in Deutschland geboren. Meine Mutter hatte sechs Monate lang nach meinem Vater gesucht, bis sie ihn in Feldafing ausfindig machte, in einem Lager für Displaced Persons in der Nähe von München. Von diesem Augenblick an hatte meine Mutter nur den einen Wunsch, Deutschland zu verlassen.

Wir wanderten nach Australien aus, als ich fast zwei Jahre alt war. Wir waren Flüchtlinge. Staatenlos und obdachlos. Der Traum meiner Mutter, Kinderärztin zu werden, löste sich in Luft auf, und das frühere Leben meines Vaters als jüngstes Kind einer wohlhabenden Familie war endgültig vorbei.

Beide arbeiteten von früh bis spät in Fabriken an der Nähmaschine. Wenn sie nach Hause kamen, mussten sie essen und schlafen. Und sich ein bisschen vom Lärm der Maschinen erholen und ein wenig Abstand vom Lärm der Toten finden.

Meine Mutter hatte ihre eigene innere Musik. Warum war sie verschont worden? Warum war sie gerettet worden? Warum war sie nicht mit ihrer Mutter und ihrer Lieblingsschwester und ihrer geliebten neunjährigen Nichte gestorben? Hatte ihre Mutter gewusst, dass sie versucht hatte, ihr in die Gaskammer zu folgen? Dieser Refrain mit seinen verschiedenen Ouvertüren und Oratorien wiederholte sich unablässig im Kopf meiner Mutter.

Unser kleines Haus fasste all die Toten kaum. Die Toten waren gegenwärtiger als die Lebenden. Ich sehnte mich nach Frieden und nach Ruhe.

Wenn ich mich nicht für Musik interessierte, warum arbeitete ich dann als Rockjournalistin? Das ist leicht zu beantworten. Mein Vater wollte, dass ich Rechtsanwältin wurde. Er war der Ansicht, dass ich jede Debatte siegreich bestehen würde. Er träumte davon, dass ich in den Gerichtssaal marschierte und jeden Prozess gewann. So wie Perry Mason, der Anwalt in der amerikanischen Fernsehserie, die mein Vater so gern sah.

Es ist sehr schwer, sich aufzulehnen, wenn beide Eltern in Todeslagern der Nazis eingesperrt gewesen waren. Es ist sehr schwer, ungezogen zu sein, wenn die eigene Mutter mehrmals in der Woche schreiend aus dem Schlaf aufschreckt. Also rebellierte ich auf eine der wenigen Weisen, die ich für zumutbar hielt. Ich weigerte mich, an der Universität zu studieren.

Meine Mutter sagte, wenn ich nicht bereit sei, an der Universität zu studieren, müsse ich mir eine Arbeit suchen. Zu meinem Glück gab es eine neue Wochenzeitschrift. Es war die erste australische Rockmusikzeitschrift. Eine Freundin schlug mir vor, mich dort nach einer Stelle umzusehen. Und das tat ich in jugendlicher Furchtlosigkeit und Nonchalance. Es war mein großes Glück, dass niemand bei der Zeitschrift auf die Idee kam, sich nach meiner journalistischen Erfahrung zu erkundigen. Ich hatte nämlich keine. Von einem Tag auf den anderen war ich Rockjournalistin geworden. Eine Sekretärin im Büro zeigte mir, wie man Papier in die...