1. KAPITEL
„Warst du etwa die ganze Nacht hier?“
Etwa zehn Sekunden, nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, starrte Nathan LeBeau entgeistert auf die junge Frau, die es sich auf dem weißen Ledersofa im Büro des Einrichtungsgeschäfts so bequem wie möglich gemacht hatte. Seine schlanke, aristokratische Hand lag auf der schmalen Brust, als hätte er Angst, sein Herz könnte zerspringen.
„Wie soll ich dich denn mit meinem unermüdlichen Fleiß beeindrucken, wenn du deine Nächte hier verbringst?“ Er ging ans einzige Fenster und öffnete die hellblaue Jalousie. „Du kannst von Glück sagen, dass du nicht gerade 911 wählst.“
„Warum sollte ich 911 wählen?“, murmelte Kennon Cassidy blinzelnd und rieb sich den schmerzenden Nacken.
„Weil du mich halb zu Tode erschreckt hast.“ Nathan warf sein dunkelbraunes Haar über die Schulter. Er trug es so lang, um wie ein begnadeter Dirigent auszusehen.
Kennon Cassidy, seine Arbeitgeberin, aber eigentlich eher seine gute Freundin und Förderin, setzte sich auf und sah ihren hochgewachsenen und manchmal recht anstrengenden Assistenten an. „Wie spät ist es?“
Nathan betrachtete sie. „Ich würde sagen, es ist eine ganze Weile her, dass deine Kutsche sich in einen Kürbis verwandelt hat.“
Kennon lächelte. „Nathan, du guckst einfach zu viele Märchenfilme.“
„Nicht freiwillig. Etwas anderes dürfen Rebecca und Stuart sich nicht ansehen, wenn ich auf sie aufpasse. Ich kann es kaum erwarten, dass die beiden in die Pubertät kommen und gegen meine biedere Schwester rebellieren.“
Nathan stützte eine Hand auf die Hüfte und musterte die schlanke, etwas zerzaust aussehende Blondine, die ihn vier Jahre zuvor trotz seiner zwei linken Hände eingestellt hatte. „So kann es nicht weitergehen, weißt du?“
Ihre Blicke trafen sich. „Stimmt. Als Erstes muss ich diesen süßlichen Geschmack auf der Zunge loswerden. Ich bin nämlich mit einem Hustenbonbon im Mund eingeschlafen.“ Kennon stand auf, betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster und schüttelte sich. Sie sah grauenhaft aus. Sie unterdrückte ein Gähnen und versuchte sich zu erinnern, wann sie eingeschlafen war. „Ich wollte mich nur mal eine Minute hinlegen und die Augen zumachen.“
„Aus der Minute sind Stunden geworden.“
„Wie spät ist es?“, wiederholte sie. „Im Ernst.“
„Morgen“, antwortete er. Sie runzelte die Stirn. „Wenn du es genau wissen willst, wir haben Dienstag. Acht Uhr dreißig. Vierter Mai. Im Jahre des Herrn zweitausendund…“
Kennon hob eine Hand. „Ich weiß, welches Jahr wir haben. Ich bin nicht Rip Van Winkle.“
„Bei dem hat es auch damit angefangen, dass er nur ein kurzes Nickerchen machen wollte.“ Nathan warf einen Blick in das aufgeschlagene Skizzenbuch, das auf dem Schreibtisch lag. „Hast du an den Entwürfen für das Haus der Prestons gearbeitet?“
Das hatte sie vorgehabt. Aber eigentlich hatte sie eher an ihrem Selbstwertgefühl gearbeitet. Obwohl sie