Vielfalt als Normalität
ZF Friedrichshafen (2014–2015)
»Wenn Sie für uns arbeiten würden – welche Bereiche oder Prozesse unseres Unternehmens würden Sie als Erstes prüfen?« Stefan Sommer, Vorstandsvorsitzender der ZF Friedrichshafen AG, stellt mir diese Frage. Wir haben uns zu meinem zweiten Interview für die Stelle als Revisionsleiterin des Unternehmens getroffen und sitzen schon seit fast zwei Stunden zusammen. Ich bin vorbereitet. »In Ihrer Strategie steht, dass Sie 40 Milliarden Euro Umsatz erzielen wollen. Das schaffen Sie nicht mit organischem Wachstum. Sie müssen also zukaufen. Und deshalb würde ich mir den Mergers& Acquisitions-Prozess als Erstes anschauen«, antworte ich ihm. Stefan Sommer nickt leicht mit dem Kopf und wechselt das Thema.
Ein paar Tage später lässt er mich anrufen. Ich bekomme den Job und trete ihn freudig an. Kurz danach, im Spätsommer 2014, gibt ZF die Übernahme des US-amerikanischen Automobilzulieferers TRW Automotive bekannt. Ich lag also richtig mit meiner Annahme, dass im Bereich Mergers& Acquisitions jede Menge los ist. Für die Übernahme verschuldet sich ZF das erste Mal in seiner Unternehmensgeschichte. 9,6 Milliarden Euro werden für den Kauf fällig. TRW hat mehr Mitarbeiter als ZF: 67.000 neue Leute gilt es nun, mit den 65.000 eigenen Beschäftigten unter einem Dach zu vereinen. Mit der Fusion und damit mehr als 130.000 Mitarbeitern erreicht der Konzern einen Gesamtumsatz von knapp 30 Milliarden Euro. Es ist eine der spektakulärsten Übernahmen in der Zulieferbranche – und ZF gehört quasi über Nacht neben Bosch und Continental zur Weltspitze der Automobilzulieferer.
Nicht nur finanziell ist diese Übernahme ein Abenteuer. Auch kulturell muss im Unternehmen einiges bewältigt werden. Die ZF AG ist in der Hand von zwei Stiftungen, TRW ein börsennotiertes Unternehmen. Hier prallen Welten aufeinander. Die Funktionen in den beiden Organisationen haben zudem sehr unterschiedliche Wertigkeiten – TRW hat beispielsweise fast fünfmal so viele Konzernjuristen wie ZF im Topmanagement. Auch die Führungskulturen in den beiden Unternehmen unterscheiden sich grundlegend. Nun gibt es auf einmal genauso viele amerikanische wie deutsche Manager, die ab sofort eng zusammenarbeiten werden und dafür geeignete Vorgehensweisen finden müssen.
Ich kenne einige Beispiele von großen Fusionen im Automobilbereich, die gescheitert sind oder für hohe Verluste gesorgt haben, etwa BMW und Rover, Daimler und Chrysler, Schaeffler und Continental. ZF jedoch gelingt das Kunststück, eine Fusion geräuschlos zu stemmen. Was macht dieses Unternehmen anders? Wie glückt es ihm, eine Balance zwischen den deutschen und amerikanischen Kollegen sowie der eigenen internationalen Mitarbeiterschaft herzustellen? Der Erfolg stellt sich vor allem deshalb ein, weil es keine Haltung von »Wir sind ein deutscher Konzern, und alle neuen Mitarbeiter müssen sich jetzt nach uns richten« gibt. Den Glaubenssatz, dass sich ein deutscher Markenkern nur erhalten lässt, wenn man sich nach allen Richtungen abschottet, sucht man bei ZF vergebens. Ganz im Gegenteil: Die Fusion mit TRW gelingt, weil Offenheit und Diversität schon lange in der Unternehmens-DNA verankert sind. Nicht als Programm oder ein von der Personalabteilung verordnetes, dem Zeitgeist entsprechendes Nice-to-have, sondern als Selbstverständlichkeit, die sich aus der täglichen Arbeit heraus ergibt und auf allen Hierarchieebenen gelebt wird. Hier herrscht Vielfalt von oben nach unten und wieder zurück.
Gelebte Wertschätzung für Andersartigkeit
Bereits vor meinem ersten Vorstellungsgespräch ist mir die Assistentin des Vorstandsvorsitzenden aufgefallen: Die promovierte Ungarin ist ehemalige Profi-Surferin, eine blitzschnelle Denkerin mit hoher Auffassungsgabe – und sie hat mehr Tattoos an den Armen als mancher Fußballstar. Der Vorstandsvorsitzende schätzt ihre Fähigkeiten. Ob ihre Körpermodifikationen und ihr Kleidungsstil mit dem konventionellen Dresscode in einer Vorstandsetage kompatibel sind, spielt für ihn keine Rolle. Es ist das erste Mal in meiner Karriere, dass ich eine solche Form von Offenheit in einem Konzern erlebe. Der gesamte Vorstand und auch das übrige Management zeigen Bewusstheit und Wertschätzung dafür, dass Menschen zwar unterschiedliche Lebensläufe haben können, verschiedenste Themen in ihrem Leben wichtig sein mögen, Hautfarbe, Auftreten und Lebensziele kaum stärker voneinander abweichen können, sie aber trotzdem für ZF an der richtigen Stelle sind. In anderen Unternehmen habe ich erlebt, dass männliche Führungskräfte schon schräg angeschaut wurden, wenn sie in einem rosa Hemd zum Führungskräfte-Meeting erschienen oder ein Fototermin abgesagt wurde, weil die einzige Frau in der Führungsriege eine Hose mit hell- und dunkelblauen Blockstreifen anstatt in dezenter Uni-Farbe trug. Bei ZF erlebe ich, wie die Integration von Menschen mit nicht-deutscher Muttersprache, mit Nischen-Know-how, mit besonderen Fähigkeiten, bunter Kleidung und hoher eigener Integrationsfähigkeit selbstverständlich ist, ohne dass es dafür ein extra aufgelegtes Programm gibt. Ich staune, dass es so etwas gibt, in der konservativen deutschen Automobilindustrie. Es macht einfach Spaß, hier zu arbeiten.
Schon kurz nach meinem Start als Revisionsleiterin bei ZF reise ich mit einem unserer Vorstände nach Brasilien. Im direkten Kontakt beobachte ich, wie er das Team dort führt und wie er sich einbringt. Dies wird ein Lehrbeispiel für mich und prägt mich auch für meine späteren Vorstands- und Aufsichtsratspositionen. Einer der Knackpunkte bei hochrangigen Führungsposten ist: Man hat eine gewisse Distanz zum operativen Geschäft, muss aber trotzdem klarmachen, wofür das Unternehmen als großes Ganzes steht und wohin die Reise geht.Management by Helicopter – über allem schweben, von Zeit zu Zeit landen und dabei möglichst viel Staub aufwirbeln – nützt hier nicht viel. Es braucht vielmehr sehr bewusste, effektive Führung auf Distanz.
Meine Erlebnisse in Brasilien zeigen mir, welch wichtige Rolle dabei die Erwartungen der Mitarbeitenden an Integrität und Führungsstärke der Executives spielen. In Südamerika herrscht beispielsweise ein ganz anderer Umgang mit dem Faktor Zeit als bei uns in Deutschland. Wenn ich als Führungskraft in Brasilien erwarte, einen bestimmten Bericht am Mittwoch zu bekommen, dann muss ich schon am Montag danach fragen. Und am Dienstag noch mal. Damit signalisiere ich dem damit beauftragten Mitarbeiter, dass mir dieser Bericht wirklich wichtig ist und ich ihn dringend brauche. Tue ich das nicht, werde ich den Bericht keinesfalls bis Mittwoch bekommen, sondern deutlich später. Das wiederum zeugt nicht von Respektlosigkeit des Mitarbeiters mir gegenüber, sondern er nimmt aufgrund seiner kulturellen Prägung lediglich an, dass ich den Bericht nicht so dringend brauche, weil ich ihn nicht ständig daran erinnere. Demzufolge erledigt er etwas, das in seinen Augen dringender ist – oder worum jemand anderes im Unternehmen ihn nun schon zum dritten Mal gebeten hat. Es ist wichtig, sich in solche kulturell verschiedenen Handlungsmuster hineinzuversetzen und sich auch passend zu verhalten. Dazu gehört auch, seine Erwartungen trotz aller Unterschiede offen anzusprechen und möglicherweise daraus resultierende Diskussionen zu führen. Es hilft sehr, dafür bereit und offen zu sein, statt auf seinen eigenen Denk- und Verhaltensmustern zu bestehen, sondern diese Form von Diversität als ganz normal zu empfinden.
Ein weiteres Beispiel fällt mir dazu ein: Im Postmerger-Integration-Team bei ZF übernehme ich eine Teilprojektleitung. Ich helfe dabei, aus zwei Revisionsabteilungen eine zu machen, und fliege deshalb regelmäßig zum TRW-Hauptsitz in Michigan. Es gilt unter anderem, das unterschiedliche Verständnis der Funktionen zusammenzubringen und gemischte Teams aus deutschen und amerikanischen Mitarbeitern zu bilden. Ich stelle fest, dass etliche Mitarbeiter aus Kanada kommen – der Detroit River bildet mitten in der Stadt die Grenze zum Nachbarstaat – und jeden Tag in die USA pendeln. Sie haben den Blick von außen auf die Verschmelzung der US-amerikanischen TRW- und der deutschen ZF-Kultur, zumal es durchaus signifikante kulturelle...