I: EINSAM, TRÜB UND TRAURIG SINNEND (DAKOTA)
Die Frühlingssonne strahlt auf Seattle herab wie die Klinge eines Schwerts, das auf meine finstere Stimmung gerichtet ist. Ich bin traurig und hungrig – eine gefährliche Kombination.
Vor genau einem Jahr habe ich mein Herz zu Grabe getragen – und den Dreckskerl zum Teufel gejagt, der es mit Füßen getreten, mit Kerosin übergossen und angezündet hat, sodass nur ein verkohltes Häufchen übrig war –, aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit.
Mit manchen Dingen lernt man zu leben, ohne sie wirklich überwunden zu haben.
Manches vergisst man nie.
Schluss mit dem Selbstmitleid, Dakota. Du bist ohne ihn besser dran. Du bist tausend Meilen weg von zu Hause, hast dir ein neues Leben aufgebaut, ermahne ich mich.
Die verführerische Auslage der Bäckerei zu studieren, hilft. Es stimmt. Ich habe neu angefangen. Irgendwie.
Ich habe die Ödnis der Kleinstadt und meinen Herzschmerz hinter mir gelassen. Nächste Woche habe ich ein Vorstellungsgespräch für einen super Job, und wenn das nicht klappt, werde ich weiter Bewerbungen schreiben, bis ich eine richtig gut bezahlte Stelle bekomme und eine Gelegenheit, mein schriftstellerisches Talent zu beweisen.
Ohne den tränenreichen Abschied im vergangenen Sommer wäre ich jetzt nicht hier in Seattle und würde nicht lechzend vor den Kalorienbomben stehen, von denen eine verführerischer aussieht als die andere.
Und dann hätte ich auch weniger Zeit zum Schreiben, säße noch in diesem winzigen Kabuff, das großspurig als Marketing-Agentur bezeichnet wird.
Danke, Herzschmerz.
Danke, Jay Foyt.
Seiner Blödheit verdanke ich ein völlig neues Leben.
»Haben Sie Hunger, oder sind Sie nur hier, um die Auslage zu bewundern?« Die Barista erscheint mit einem mädchenhaften Lachen hinter der Theke.
»Wie? Oh, Entschuldigung …«Verdammt, Dakota, reiß dich zusammen. »Ich hätte gerne eine Regis-Zimtschnecke und einen kleinen Caramel Nirvana Latte, bitte.«
»Kommt sofort!« Lächelnd greift sie mit der Zange nach der großen Zimtschnecke mit extra viel Zuckerguss. Das Teil ist so riesig, dass es mir wahrscheinlich einen Zuckerschock bescheren wird. »Sie haben Glück, das ist die letzte! Unser Vorrat war heute sehr begrenzt. Uns wurde zu wenig Zimt geliefert, weiß der Himmel, warum.«
Ich bin ein Glückskind.
Ich wünschte nur, ich hätte in anderen Lebensbereichen ebenso viel Glück. Beispielsweise in der Lotterie oder im Beruf, da könnte es nämlich nicht schaden, wenn ein paar mehr Zigarre paffende Verleger sich für meine Gedichte erwärmen würden. Und ich würde mich auch über ein Tinder-Date freuen, das es nicht nur auf Sex abgesehen hat.
Aber das ist wohl zu viel verlangt.
Immerhin ist mir das Glück heute zumindest insoweit hold, als es mir die letzte klebrige Zimtsünde aus der Auslage zugesteht, auch wenn die vermutlich direkt auf meinen Hüften landet.
Das ist immerhin ein Anfang, oder?
Ich gehe zur Kasse und bezahle.
»Freut mich, dass ich die letzte ergattert habe«, sage ich und lege meine Karte auf das Lesegerät. »Ich werde sie umso mehr genießen …«
»Was soll das heißen, Sie haben die letzte ergattert?«, fragt eine donnernde Stimme hinter mir. »Ich komme seit Weihnachten dreimal die Woche zur gleichen Zeit her, und es waren immer noch Regis-Zimtschnecken da.«
Du lieber Gott.
Und ich dachte, ich hätte einen schlechten Tag.
Ich werfe einen Blick zur Theke, um zu sehen, was da für ein Oger aus dem Sumpf gekrochen ist, um einen Aufstand zu machen wegen einer Zimtschnecke.
»Tut mir leid, Sir. Die Dame vor Ihnen hat die letzte Zimtschnecke gekauft«, entgegnet die Barista mit einem entschuldigenden Lächeln. »Offenbar ist Zimt derzeit knapp …«
»Soll das heißen, es gibt in der ganzen verdammten Bäckerei keine einzige Regis-Zimtschnecke mehr?« Der Mann ist groß, kräftig und offensichtlich stinksauer.
»Äh, richtig. Wie gesagt … Zimt ist knapp.« Die Barista lächelt jetzt etwas gequält. »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, fürchte ich. Morgen kann ich Ihnen gerne eine zurücklegen.«
Sie nickt mir knapp zu.
Der Mann wendet sich mir abrupt zu und funkelt mich mit vernichtendem Laserblick an.
Alarmstufe Rot.
Der Typ hat tatsächlich Manieren wie ein Oger, aber was sein Aussehen betrifft, ist er alles andere als ein Shrek. Anstatt eines Schmerbauchs und leuchtend grüner Haut, ist der finster dreinblickende Fremde muskulös und braun gebrannt.
Mir stockt der Atem.
Ich habe noch nie solche Augen gesehen. Sie schimmern im Morgenlicht bernsteinfarben wie Whisky.
Wenn er nicht die Zähne fletschen würde wie ein tollwütiger Vielfraß, wäre er verführerischer als die noch warme Zimtschnecke in meiner Hand. Die hellen Augen bilden einen faszinierenden Kontrast zu seinen dunklen Haaren, und die unheilvoll gerunzelte Stirn und das kantige Gesicht erinnern mich an die Götter der Antike.
Ich schätze ihn auf Anfang dreißig. Seine Züge wirken jungenhaft und gleichzeitig erwachsen.
Dazu dieser durchtrainierte Körper. Er sieht aus wie ein ehemaliger Quarterback und ist gekleidet, als käme er geradewegs vom Set vonSuits.
Ein in Gucci gehüllter Leckerbissen, der ist bestimmt eine Sünde wert.
Ich bin mit Sicherheit nicht die einzige Frau, bei der er sofort wilde Fantasien auslöst.
Aber wenn man eine – sehr – entfernte Verwandte von Edgar Allan Poe ist, ist das erst recht kein Wunder.
Ich frage mich unwillkürlich, ob er schon übel gelaunt aufgewacht ist, um ein so finsteres Gesicht hinzubekommen.
Ich fange an, ein Muster in der Stadt zu erkennen. Irgendwie gibt es in Seattle eine besonders große Dichte an grimmigen Sexgöttern.
Liegt das am vielen Regen?
Schlimmer noch. Er überragt mich wie Goliath, der es als sein gutes Recht erachtet, Normalsterbliche, die sich ihm nicht sofort zu Füßen werfen, zusammenzustauchen.
Obwohl er geradezu unverschämt gut aussieht und sein Anzug wahrscheinlich so viel gekostet hat, wie ich in einem halben Jahr verdiene, frage ich mich, weshalb es ihn so in Rage versetzt, dass er sein Lieblingsgebäck einmal nicht bekommt.
Sicher, ich verstehe schon, dass diese Zimtschnecken einen fast um den Verstand bringen können, aber eben nurfast.
Während Hades mich weiter anstarrt, verdrehe ich die Augen und gehe zur Getränkeausgabe am anderen Ende der Theke.
Ich bin froh, etwas Abstand zwischen uns bringen zu können.
Nachdem er eine volle Minute vor sich hin geschimpft hat, folgt er mir um die Theke herum.
Oh-oh.
Er wird doch seinen Zorn nicht an mir auslassen, oder?
Nein,niemals.
Dann steht er direkt neben mir.
Er funkelt mich immer noch so böse an, als hätte ich seinen Erstgeborenen auf dem Gewissen.
Er öffnet seine Brieftasche, nimmt einen druckfrischen Schein heraus und hält ihn mir hin, als würde er brennen.
»Fünfzig Dollar«, knurrt der sexy Shrek.
»Wie bitte?«
»Fünfzig Dollar. Ich gebe Ihnen das Zehnfache des Kaufpreises, wenn Sie mir die Regis-Zimtschnecke überlassen.«
»Was?«, frage ich blinzelnd. Ich habe ihn gehört, kann aber nicht glauben, dass er das wirklich gesagt hat.
Er zeigt auf die weiße Papiertüte in meiner Hand, in der sich das begehrte Gebäck befindet.
»Im Ernst? So viel ist Ihnen meine Zimtschnecke wert?«
»Sagte ich das nicht gerade? Außerdem ist es eine Regis-Zimtschnecke«, entgegnet er schroff. »Für die lohnt es sich zu sterben. Das Originalrezept ist aus Heart’s Edge in Montana und wurde von einem Kerl mit hässlichen Brandnarben für gut befunden, der landesweit Schlagzeilen gemacht hat und für seine Kurzauftritte in Filmen berühmt ist.«
Ich muss lachen. Genau so bewirbt Sweeter Grind’s ihre Zimtschnecken. Das ist eine Kette von Süßigkeitenläden, die Clarissa und Leo Regis gehört, die vor ein paar Jahren ...