: Matthias Martin Becker
: Bodenlos - Wer wird die Welt ernähren? Umbrüche in Agrobusiness und Tierindustrie
: PapyRossa Verlag
: 9783894389178
: 1
: CHF 16.20
:
: Politik
: German
: 295
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die ökologische Krise setzt das weltweite Agrarsystem unter Druck. Niederschläge werden unregelmäßiger, Dürre, Stürme und Überflutungen weiten sich aus. Hinzu kommen Artensterben, Bodenverschlechterung und neue Pflanzenkrankheiten - Probleme, zu denen die profit-getriebene Landwirtschaft selbst erheblich beiträgt. Mit ihren Anbaumethoden untergräbt sie ihre eigenen Grundlagen. Agrarwissenschaft und Lebensmittelindustrie experimentieren deshalb mit neuen Produktionsmethoden: mit dem Anbau in Innenräumen, mit gentechnisch veränderten Organismen und einer automatisierten Tierzucht. Aber weder die biotechnische Modernisierung noch die Rückzugsversuche in kleinbäuerliche Nischen bieten einen Ausweg für die Landwirtschaft der Zukunft, in einer heißeren und unbeständigeren Welt. Gibt es Auswege, um die die Welt zu ernähren, ohne sie zu zerstören?

Matthias Martin Becker, *1971, Übersetzer und freier Wissenschaftsjournalist u.a. für Deutschlandfunk, SWR und WDR, lebt in Berlin. Zuletzt bei PapyRossa: ?Klima, Chaos, Kapital?.

1.
Auftakt in der Küche


»Ach, das ist doch normal! Ist eben Sommer.«

Ganz leutselig sagt er das. Aber mein verkniffenes Gesicht macht ihn misstrauisch. »Du bist keiner von diesen Klimawandel-Typen geworden, oder?«

Ich will ihn am Kragen packen und schütteln. Ich will ihn anschreien.

Dieser Sommer ist so heiß wie keiner zuvor, seit die Temperaturen aufgezeichnet werden. Die Hitzewellen beginnen ungewöhnlich früh, dauern ungewöhnlich lange und endeten ungewöhnlich spät. Sie erfassen Nordamerika, Asien und Europa gleichzeitig. In den USA gehen manche Landwirte dazu über, ihre Felder nachts zu bearbeiten, weil die Hitze tagsüber unerträglich ist. Bauarbeiter tragen bei der Arbeit im Freien ein Kältepad unterm Schutzhelm.

Nein, das alles ist nicht normal. Muss ich ihm das wirklich erklären? Ich bin unsicher, wie ich reagieren soll. Ich könnte das Thema wechseln, um die Auseinandersetzung zu vermeiden. Aber das würde ihm auffallen, so schlau ist er schon. Oder ich könnte ihm einen Vortrag halten, um ihm grundlegende Zusammenhänge des Klimasystems darzulegen.

»Alles Panikmache!«, meint er, bevor ich mich entscheiden kann. Er holt sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Draußen 37 Grad Celsius. Über der Stadt liegt eine Glocke aus Dunst und Staub. Die Kerze auf dem Balkontisch ist angeschmolzen. Hier drinnen in der Küche lässt es sich aushalten, weil: Klimaanlage! Im Sommer letztes Jahr hat er sich einen tragbarenAir Cooler beiBaumarkt gekauft. Das Gerät brummt in seiner schlecht isolierten Mietwohnung im dritten Stock vor sich hin und macht die Stromrechnung teurer.

Die Folgen des Klimawandels dringen in unseren Alltag vor. Große Flüsse wie der Rhein sind in den Sommermonaten kaum noch schiffbar, die Wälder ausdörrt. In den Ländern, wo wir Urlaub machen, wird das Wasser rationiert. Im August 2023 mussten zweihundert Kommunen in Südfrankreich mit Tankwagen oder Mineralwasser in Flaschen versorgt werden, weil es an Grundwasser fehlte.

Die Veränderungen entsprechen ungefähr dem, was die Klimawissenschaft vorausgesagt hat. Die Folgen für Vegetation und Tiere, Wasserkreisläufe, Boden und Meer übertreffen die schlimmsten Befürchtungen. Und trotz alledem, mein alter Freund will es nicht wahrhaben. Was muss noch passieren, bis er sich dazu durchringen wird? Wenn aus den Leitungen kein sauberes Wasser mehr kommt? Wenn seine Mutter an Dengue-Fieber gestorben ist?

Die Zeiten sind vorbei, als die Leute übers Wetter redeten, um nicht über Politik sprechen zu müssen. Die ökologische Frage spaltet Familien und stellt Freundschaften auf die Probe – so wie in dieser Küche.

Er empört sich über die Klimakleber. Sie schüren Angst, meint er. Ich finde, wessen Angst immer noch geschürt werden muss, weil er von alleine keine entwickelt, hat einen an der Waffel.

Er lehnt staatliche Maßnahmen für Klimaschutz ab. Mir gehen sie nicht wei