KAPITEL I: EINFACH MAL DIE KLAPPE HALTEN (ELIZA)
Manche Leute glauben, ihr Leben folge einer Melodie. Als würden im Hintergrund Dutzende bedeutungsvoller Songs spielen, die jedes Drama in ihrem Leben untermalen und betonen.
Ich glaube das nicht. Mein Leben wurde immer von einem Duft begleitet, der ihm anhaftet wie ein süßliches Parfum, und den würde ich um nichts in der Welt eintauschen.
Ich kann nur arbeiten, wenn ich von einer Wolke Kaffeeduft eingehüllt bin.
»Danke, dass du mich früher reinlässt, Wayne. Ich kann mich vor Beginn der offiziellen Bürozeiten einfach besser konzentrieren.« Ich streiche mir eine dicke dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Jederzeit, Eliza. Ich freue mich immer über nette Gesellschaft.« Wayne schiebt einen dampfenden Becher der letzten Kaffeekreation von Wired Cup über den Tresen, greift dann nach einem Küchenhandtuch und wischt damit über die blitzende Espressomaschine.
Es ist eine tröstliche, vertraute Routine, die ich schon Hunderte Male beobachtet habe.
Ich hebe den Becher an die Lippen und trinke einen kleinen Schluck. Es geht nicht nur um meine tägliche Koffeindosis. Seit ich den ersten Instantkaffee bei meiner Großmutter getrunken habe, ist das mein tägliches Aufwach-Ritual.
»Dunkle Röstung.« Noch ein kleiner Schluck, und ich lasse den Kaffee in meinem Mund kreisen. »… mit leichten Kakaonoten?«
»Fast! Sumatra-Röstung«, entgegnet er und kratzt sich den dichten Bart.
»Erhitzt bei eins achtzig?«
Er wirft mir einen beinahe beleidigten Blick zu.Natürlich, Lady, ich bin doch kein Anfänger. Er braucht es gar nicht laut auszusprechen – ich kann ihn denken hören.
Trotzdem mustere ich ihn aus zusammengekniffenen Augen.
»Echt jetzt? Alle unsere Heißgetränke in dieser Kategorie werden bei eins achtzig erhitzt. Das ist bei uns Standard.«
»Dachte ich mir. Der Kaffee ist nur … besser als sonst. Ich kann die einzelnen Noten schmecken. Sehr ordentlich …« Ich lege eine Pause ein und zucke demonstrativ mit den Schultern. »Jedenfalls für eine Kette.«
Wayne legt den Kopf in den Nacken und lacht schallend.
»Kaffee-Snob. Ich weiß schon, warum ich dich behalten habe.«
Ich lächle. »Ich bin kein Snob. Du weißt, wie offen ich bin. Aber ein guter Kaffee hat seinen eigenen Fingerabdruck. Er verrät seine Herkunft, den Jahrgang und die Anbaubedingungen. Darum ist jede Tasse einzigartig. Es ist wie ein Wunder.«
»Meine Güte, Mädchen, stell mich nicht auf ein Podest. Ich bin kein Kaffee-Guru, nur ein Typ, der mit Kaffee seinen Lebensunterhalt verdient.« Er fängt an, große Flaschen aromatisierten Sirups auf der Arbeitsfläche hinter dem Tresen zu sortieren.
Als Wayne mich wieder ansieht, hat er das Gesicht zu einer Grimasse verzogen.
»Manchmal kommt es mir vor, als würde die Abendschicht keinen Finger rühren«, brummt er. »Wunder wirst du in dieser bescheidenen Hütte nicht erwarten können. Versuch es mal bei Sweeter Grind. Die haben angeblich richtig guten Kaffee, und nach allem, was ich gehört habe, sind deren Riesen-Zimtschnecken ein Gedicht.«
Ich ziehe die Brauen hoch. »Du solltest keine Werbung für die Konkurrenz machen.«
»Ich werde nicht gut genug bezahlt, um loyal zu sein. Aber ich kann heute nicht so viel quatschen. Ich habe in Kürze ein Gespräch mit der Geschäftsleitung. Die reißen mir den Arsch auf, wenn der Laden nicht tipptopp auf Vordermann ist. Die Abendschicht hinterlässt immer einen Saustall, und das wirft ein schlechtes Licht auf uns alle.«
Ich nicke höflich und trinke diesmal einen größeren Schluck des Kaffees, an dem ich nicht das Geringste auszusetzen habe.
Ich verstehe, was er meint.
Wired Cup serviert seit Jahrzehnten einfach guten Kaffee und ist somit nicht ohne Grund die zweitgrößte Cafékette in Seattle.
Und die Leute, die hier arbeiten, sind wie der Kaffee.
Wayne zum Beispiel. Er ist ein guter Barista – vergisst nie meine Bestellung und gewährt mir diese ruhigen Momente zum Nachdenken, Durchatmen und Experimentieren –, und er nimmt seinen Job ernst. Er erinnert mich ein wenig an einen kampferprobten, abgestumpften Soldaten.
Ich sollte ihn in Ruhe arbeiten lassen. Ich schnappe mir mit einer Hand den heißen Becher und mit der anderen meine Handtasche und gehe zu einem Tisch an der Wand, wo ich ihn nicht weiter störe.
Sobald ich sitze, lasse ich die Handtasche zu Boden gleiten und hole das Notebook, den Stift und ein kleines Einmachglas heraus.
Ich weiß.
Man bringt nicht eigene Getränke mit in ein Café, auch nicht selbst zubereitete.
Gut, dass Wayne das egal ist.
Und Wired Cup ist so kundenfreundlich, dass deswegen auch niemand einen Aufstand macht.
Ich öffne das Einmachglas mit meiner letzten Probemischung und trinke einen großen Schluck der starken dunklen Flüssigkeit.
Geschmacksexplosion.
Und ich mittendrin.
Ich bin ehrlich stolz auf meinen über offenem Feuer gerösteten, samtweichen Kaffee, der gefühlt hundertmal stärker ist als jeder Kaffee im Wired Cup. Rauchig, laut und intensiv genug, dass sich meine Zehen in den Schuhen krümmen.
Gott.
Entweder bin ich bereits zu süchtig, um die Kaffeechemikerin zu spielen, oder ich bin gewaltig untervögelt.
Mein Blick fällt wieder auf den Becher von Wired Cup. Die neue Geschmacksrichtung ist gut, zumal für eine Kette, aber einen Tick zu langweilig.
Ich nehme eine Flasche Wasser aus der Tasche, um meinen Gaumen zu spülen, und nippe dann wieder zum direkten Vergleich an dem Pappbecher.
Ja. Ganz schwache Kakaonoten, nur ein leiser Hauch.
Das ist der merkliche Unterschied zwischen dieser neuen Kreation und dem »normalen« Kaffee hier. Der Kakao ist gut und weich für eine dunkle Röstung und erinnert an einen Mokka Light. Aber der Durchschnittsmensch braucht trotzdem zwei Tassen von dem Gebräu, um durch den Morgen zu kommen. Ich sogar vier.
Das bringt mich auf eine Idee …
S’mores-Kaffee.
Wenn ich meine letzte Kreation mit der richtigen Süße kombiniere, könnte es funktionieren.
Ich tüftle seit Monaten an dieser Lagerfeuer-Mischung, seit ich den Kaffee dieses Typen aus dem Obdachlosen-Zeltlager probiert habe. Diese Art der Röstung verleiht den Bohnen eine ganz besondere Note, die keine Kaffeekette reproduzieren könnte, nicht einmal, wenn sie es wollte und bereit wäre, das Risiko einzugehen.
Was, wenn Kakao die fehlende Zutat ist, die ich brauche, um meiner Mischung den letzten Schliff zu geben?
Ich lächle. Ein paar Kakaobohnen zur Lagerfeuer-Mischung und dazu etwas Karamell und Vanille. Und anstelle eines Graham Crackers ein Plätzchen einer belgischen Schokoladenmarke.
Verdammt, das ist es.
Ich bin heute wirklich inspiriert. Auch wenn der Kaffee nicht gut ankommt, und ich gebe zu, dass einige meiner Mischungen etwas ungewöhnlich sind, dürfte es nicht schwer sein, in der Stadt Leute zu finden, die die neueste Kreation probieren würden, wenn es dazu einen Keks mit belgischer Schokolade gäbe.
Ich trinke einen kräftigen Schluck aus dem Einmachglas und verkneife mir ein wohliges Stöhnen.
Köstlich.
Nach einem Campingausflug im Sommer ein altmodischer Kaffee, der von Holzfällern in karierten Flanellhemden am Lagerfeuer gekocht wurde. Als S’mores-Variante könnte das einschlagen wie eine Bombe.
Ich muss mir nur noch einen passenden Namen ausdenken.
S’more’ofee?
Nein, daran muss ich noch feilen.
Aber er schmeckt wirklich wie ein Sommermorgen. Ein friedlicher Sommermorgen.
Ich habe keine knappen Deadlines zu erfüllen, weshalb ich gerade keine Mega-Koffeindosis brauche, um zu funktionieren. Und der Kaffee von Wired Cup ist noch warm. Ich gehe an die Bar mit den kostenlosen Kaffeezusätzen, gebe Zucker und Sahne in den Becher und setze mich wieder, um das neue Gemisch zu kosten.
Zwar reicht der Kaffee nicht an Eliza Angelos Lagerfeuer-Kaffee heran, aber er schmeckt ganz ordentlich.
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