Ulrike Adrian
Führen und geführt werden:
Die Kunst, eine Leitstute zu sein
Wer bin ich?
Die Antwort ist gar nicht so leicht, wie sie scheint. Ich bin eine Einheit aus ganz verschiedenen Anteilen, die unterschiedliche Interessen haben, teilweise miteinander in Widerspruch stehen, um die Vorherrschaft ringen. Aber wer führt? Ich bin wie eine Pferdeherde, die ihre Leitstute sucht. Ich stelle ein paar Pferde meiner Herde vor, die für die Geschichte von Bedeutung sind.
Da ist die Puzzlespielerin, die die unterschiedlichen Teile zu einem vollständigen Bild zusammenzufügen versucht. Das gilt für mich selbst, für das Leben und alle möglichen Themenbereiche, die mich interessieren.
Die Wissenschaftlerin in mir liebt die Klarheit. Alles muss für mich möglichst konkret und plausibel sein. Deshalb fühle ich mich in den Naturwissenschaften zuhause.
Nur das Ergebnis zu kennen, reicht mir nicht. Wie das Ergebnis zustande gekommen ist, muss ich wissen, um nachprüfen zu können, ob es stimmig ist. Hier wird auch schon die Zweiflerin erkennbar.
Die Gottesdienerin in mir möchte ihre Bestimmung in diesem Leben erfüllen. Ich möchte tun, wozu ich in dieses Leben gekommen bin und damit meinem Leben seinen Sinn geben.
Dazu gesellt sich die Therapeutin. Als Tierärztin habe ich gelernt, Krankheitsprozesse einigermaßen zu verstehen und dann gezielt in den Prozess einzugreifen, um Leiden zu lindern bzw. den Körper bei der Heilung zu unterstützen. Jede Behandlung soll möglichst nachvollziehbar Sinn machen. Ich muss wissen, was ich tue. In der komplexen Natur der Lebewesen ist das zwar oft nur ansatzweise der Fall, aber alles Streben und Forschen geht in diese Richtung. Ich möchte alles durchdringen und verstehen, um Prozesse kontrollieren und steuern zu können und mich und andere zumindest einigermaßen vor bösen Überraschungen zu schützen.
Als Amtstierärztin habe ich mich immer bemüht, das Gesamtbild zu sehen, alle Sichtweisen zu berücksichtigen und mich immer auf das Wesentliche zu konzentrieren und dabei einen sachlichen neutralen Standpunkt einzunehmen. Hier war mir die Beobachterin eine große Hilfe. Verschiedene Perspektiven beleuchten, die Essenz finden oder das Prinzip verstehen, das ist meine bevorzugte Strategie.
Die Vorsichtige ist einerseits neugierig, aber auch zurückhaltend. Neues beobachte ich erst einmal mit etwas Abstand. Erweckt es weiter mein Interesse, wird es genauer untersucht und auf Herz und Nieren geprüft.
Ich bin auch die Starke, die sehr viel Verständnis hat für andere, die pflichtbewusst und zuverlässig ist. Ich stelle mich auch Situationen, die mir schwerfallen, gebe nicht gerne auf und bin da, wenn man mich braucht.
Wenn der Boden der Sachlichkeit verlassen wird, in meinen Augen Unsinniges oder Unrealistisches gefordert wird, dann erwacht die Rebellin in mir und geht in den Widerstand.
Die Ausgangslage
In den letzten Jahren war es immer schlimmer geworden. Ich hatte das Gefühl, zwischen den verschiedenen Aufgaben und Pflichten nur noch hin- und hergezerrt zu werden. Mein Handlungsspielraum wurde von verschiedenen Seiten immer weiter eingeengt. Ich fühlte mich wie in einer Schraubzwinge. Immer öfter befand ich mich in einem erfolglosen Widerstand. Die Starke und die Rebellin kamen immer mehr an ihre Grenzen. Kraft und Freude schwanden in beängstigendem Maße. Dafür wuchs mein Frust. Momente zum herzhaften Lachen fand ich immer weniger. Eine sehr ungünstige Entwicklung, die ich durchaus wahrnahm.
Die Starke konnte nicht auf-, die Rebellin wollte nicht nachgeben. Stattdessen hatte ich meine Opferbrille aufgesetzt, fühlte mich ohnmächtig und gefangen. Ich habe inständig auf einen Retter gehofft, der mich aus dieser Situation befreit.
Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, war ich froh, wenn ich die Tiere auch noch versorgt und endlich alles geschafft hatte. Ich hatte viel zu wenig Muße, einfach bei ihnen zu sein.
Der Ruf
Naturwissenschaft und Religion
Die Wissenschaftlerin und die Gottesdienerin hätten gerne einen klaren göttlichen Auftrag und los geht es. Aber entweder höre ich schlecht oder bin schwer von Begriff. Ich hadere zuweilen mit Gott: Wenn ich doch eine Aufgabe hier zu erfüllen habe, warum wird mir das nicht klar und deutlich mitgeteilt. Warum ist das so ein Rätselraten?
Wozu bin ich also überhaupt hier? Wie funktioniert das Leben? Warum dieser ganze Aufwand? Wenn es nur um Leben und Überleben gehen würde, dann wäre so eine aufwändige Evolution doch gar nicht notwendig gewesen.
Welche Rolle spielen die Tiere? Wie nehmen sie die Welt wahr und was fühlen sie? Was ist der Unter