Es hatte in diesem Jahr ungewöhnlich früh zu schneien begonnen. Der weite Park von Sophienlust war mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Bäume und Sträucher sahen aus, als wären sie mit feinem weißem Puder überstäubt worden, und selbst die Dächer des Kinderheims und der Nebengebäude lagen unter einer Schneeschicht verborgen. Überall im Park standen die von den Kindern gebauten Schneemänner. Es waren die ersten Versuche für den Ende November angesetzten Schneemann-Wettbewerb.
Bewundernd stand die zehnjährige Viktoria Langenbach vor ihrem großen Schneemann. Er war ihr wirklich gelungen, und nicht ohne Stolz sagte sie zu ihrer um zwei Jahre älteren Schwester Angelika: »Wetten, dass ich dieses Jahr den Wettbewerb gewinne? Mein Schneemann ist schon jetzt der schönste! Sieh nur, wie er schaut!«
»Bis jetzt wusste ich nicht, dass Kohleaugen richtig sehen können, Vicky«, meinte Angelika. »Aber auf jeden Fall würde ich ihm die Nase zurechtrücken, sonst liegt sie bald am Boden.«
Vicky begutachtete noch einmal kritisch ihren Schneemann. Es stimmte, die Nase saß nicht richtig. Schnell steckte sie die große Mohrrübe fester in das Schneegesicht. Dann hauchte sie sich in die fast blau gefrorenen Hände. Wie die anderen Kinder hatte auch sie ihre dicken Handschuhe beim Spielen ausgezogen.
Ein etwa dreizehn Jahre altes Mädchen namens Angelina Dommin trat zu den beiden Schwestern. »Ich gehe jetzt in die Halle. Kommt ihr mit? Die Huber-Mutter wird bereits warten.«
»O fein!«, rief Vicky und hauchte noch einmal kräftig in ihre Hände. »Ob sie uns heute wieder eine Geschichte erzählt?«
»Sicher«, meinte Angelina, die wegen ihrer Sommersprossen von allen Pünktchen genannt wurde, »sonst hätte sie es uns nicht versprochen. Sie will uns heute von ihrer Kinderzeit erzählen.«
Die drei Mädchen liefen zur Freitreppe. Die anderen Sophienluster Kinder folgten ihnen. Die größeren hielten die kleineren an den Händen. Hintereinander drängten sich alle in die warme Halle.
Im Kamin brannte ein lustiges Feuer. Die Huber-Mutter saß in einem gewaltigen Lehnstuhl und starrte in die flackernden Flammen, die an diesem Nachmittag die einzige Beleuchtung der Halle waren. Die Kinder liebten es, im Zwielicht um den Kamin zu sitzen, ihre Hände am Feuer zu wärmen und der Huber-Mutter zuzuhören, wenn diese von alten Zeiten berichtete.
»Huber-Mutter, wie war das nun, als du noch ein kleines Mädchen warst?«, fragte der elfjährige Fabian Schöller und hockte sich zu Füßen der Greisin auf das Bärenfell.
»Das war vor langer, langer Zeit«, begann die Huber-Mutter. Sie blickte in die Flammen und wanderte in Gedanken Jahrzehnte zurück. »Wisst ihr, wir kannten damals kein elektrisches Licht und keine Autos. Flugzeuge gab es auch noch nicht. Im Winter fuhr man mit dem Pferdeschlitten, im Sommer mit der Kutsche. Mein Vater ließ mich oft auf dem Kutschbock sitzen. Oh, das war eine herrliche Zeit!«
Die Kinder lauschten atemlos vor Spannung. Außer der Stimme der Huber-Mutter war nur noch das Knistern der Flammen zu hören. Ab und zu stand Fabian Schöller auf und legte im Kamin Holz nach.
»So, das war die Geschichte meiner Kindheit«, schloss die Huber-Mutter.
»Erzählst du uns morgen wieder eine Geschichte?«, erkundigte sich die kleine Heidi Holsten.
»Aber gern«, sagte die Huber-Mutter.
»Am schönsten ist es in Sophienlust«, meinte Vicky und lehnte ihren mit dichtem braunem Haar bedeckten Schopf an die Knie der Greisin.
»Ja, da hast du recht, Vicky«, kam es von der Huber-Mutter. Sie verbrachte ihren Lebensabend auf Sophienlust und konnte sich ebenfalls kein schöneres Heim vorstellen. Sie war dankbar, dass sie sich manchmal für die Fürsorge, mit der sie hier von allen bedacht wurde, durch ihre Kräutertränklein nützlich machen konnte. Die Kinder glaubten zudem fest daran, dass die Huber-Mutter die Zukunft voraussagen könne.
»Huber-Mutter«, sagte Heidi und krabbelte auf den Schoß der alten Frau, »morgen gehen wir mit dem Onkel Förster und Justus in den Wald, um die hungrigen Tiere zu füttern. Ob ich wohl ein Rehlein sehen werde?«
»Sicher wirst du eines sehen, kleine Heidi.«
Die Fünfjährige vertraute der Greisin restlos. Wenn die Huber-Mutter sagte, sie würde ein Rehlein sehen, dann würde es auch so sein.
Schwester Regine kam in die Halle und schaltete das elektrische Licht ein. Bedauernd sah Pünktchen zur Decke empor. Eigentlich musste es doch eine herrliche Zeit gewesen sein, als es noch kein elektrisches Licht gab und die Wohnungen nur vom warmen Schein der Petroleumlampen erhellt waren.
»So, ihr habt die Huber-Mutter jetzt lange genug gequält«, meinte Schwester Regine. »In zwanzig Minuten gibt es Abendbrot. Vergesst nicht, euch vorher die Hände zu waschen!«
Die Kinder standen auf. Eines nach dem anderen bedankte sich bei der Huber