Seit Tagen tobte der Sturm um die dicken Mauern des Herrenhauses von Sophienlust. Wilde Böen rüttelten an den Fensterläden und rissen die letzten Blätter von den Bäumen. Das Herbstwetter fesselte die Kinder ans Haus. Wenn sie von der Schule heimkamen, liefen sie rasch die Stufen der Freitreppe hinauf und retteten sich in die gemütliche Wohnhalle. Auch die Hunde suchten dort Zuflucht. Oft gesellte sich die Hubermutter zu den Kindern und streckte ihre Hände dem Feuer im offenen Kamin entgegen. Sie blieb ein Stündchen, um den Kindern eine ihrer geheimnisvollen Geschichten zu erzählen.
Dominik von Wellentin-Schoenecker, Nick genannt, blieb nun ganz in Sophienlust. Das geschah sehr zur Freude von Pünktchen, die nur dann wirklich glücklich war, wenn Nick da blieb. Denn sie liebte den älteren Jungen, der sie nach Sophienlust gebracht hatte, wo sie eine neue Heimat fand, am meisten von allen. Anfangs hatte sie sich geärgert, wenn die anderen sie wegen ihrer Schwärmerei für Nick neckten, doch jetzt nahm sie es gelassen hin.
Nicks kleiner Bruder Henrik beneidete ihn sehr. Er hätte auch gern ein eigenes Zimmer in Sophienlust gehabt. Aber er musste jeden Abend nach Schoeneich zurück. Pünktlich holte ihn seine Mutter ab.
»Wann bekomme ich endlich auch ein eigenes Zimmer in Sophienlust?«, fragte er an einem Samstagnachmittag seine Mutter.
»Noch bist du zu klein dafür«, erwiderte Denise von Schoenecker. »Auch wären Vati und ich traurig, wenn wir beide allein in Schoeneich wohnen müssten.«
»Aber ihr seid doch nicht allein, Mutti! Martha ist da, und das Hausmädchen Gusti und …«
»Das ist etwas anderes, Henrik.« Sie strich ihm liebevoll über seinen braunen Haarschopf.
»Na ja, wenn es so ist.« Bedauernd richtete er seine Augen auf die Kinder in derWohnhalle. »Dann muss ich wohl gehen. Auf Wiedersehen! Morgen nach dem Frühstück bin ich wieder da.« Er winkte noch einmal und folgte seiner Mutter hinaus.
Ein Windstoß drückte ihn fast ans Portal. Lachend sprang er die Stufen hinunter. »Mutti, ein solches Wetter ist auch schön!«, rief er. »Magst du auch den Sturm?«
»Manchmal.« Denise öffnete die hintere Autotür. »Steig schnell ein, Henrik.«
Der Junge kletterte in den Wagen. Denise startete und fuhr langsam die Auffahrt hinunter bis zum Parktor.
»Findest du es nicht ungerecht, dass Nicks Urgroßmutter mich in dem Testament ganz vergessen hat? Schließlich ist sie auch meine Urgroßmutter gewesen.«
Denise lachte herzlich. »Als Nicks Urgroßmutter starb, hatte sie doch keine Ahnung, dass du eines Tages zur Welt kommst.«
»Das ist wahr«, meinte er. »Dafür erbe ich einmal Schoeneich. Ich werde ein ebenso guter Landwirt wie Vati. Ob Vati schon daheim ist?«
»Hoffentlich.« Das schöne Frauengesicht mit den dunklen Augen spiegelte Denises Sorge wider. Ihr Mann Alexander war heute früh mit dem Auto nach Frankfurt gefahren. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte bei diesem Sturm den Zug genommen. Aber er hatte erklärt, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, denn er sei ein sehr vorsichtiger Autofahrer.
Auch Denise fuhr vorsichtig die Schnellstraße zwischen den beiden Gütern Sophienlust und Schoeneich entlang. Als sie von weitem Licht im Herrenzimmer von Schoeneich erblickte, atmete sie befreit auf. Also war Alexander schon zurück.
Jedesmal, wenn Denise das Haus betrat, weitete sich ihr Herz vor Glück. Schoeneich war ihre wirkliche Heimat geworden. Die Erinnerungen an ihren ersten Mann, Dietmar von Wellentin, Nicks Vater, waren längst verblasst. Hätte es nicht Nick gegeben, würde sie geglaubt haben, dass die kurze Ehe mit Dietmar nur ein Traum gewesen war.
Alexander von Schoenecker, ein großer Mann mit einem schmalen sonnengebräunten Gesicht, dunklen Augen und braunen Haaren, trat aus der geschnitzten Eichentür, die ins Herrenzimmer führte, in die Wohnhalle. »Endlich«, sagte er. »Ich habe soeben in Sophienlust angerufen, um mich zu erkundigen, wann du kommst. Guten Tag, mein Sohn«, sagte er zu Henrik, dem einzigen Kind aus seiner Ehe mit Denise. »Lauf nach oben und sieh in deinem Zimmer nach, was ich dir mitgebracht habe.« Er lachte und legte seinen Arm um Denise. »Tut mir leid, Denise, dass ich dich gleich bitten muss, mit ins Herrenzimmer zu kommen. Du wolltest dich gewiss erst einmal umziehen.« Er sprach nun gedämpfter. »Aber wir haben Besuch.«
»Besuch? Wer ist es denn?« Sie sah a