Vor dem Aufstand hatte sie als Teil des Gesindes der Nationalen Universität gearbeitet, nun jedoch plante D, sich eine Stellung in der Gesellschaft für Psychikalische Forschung zu verschaffen. Überall in der Stadt würde man neue Leute brauchen – nicht wahr? –, um die Posten neu zu besetzen, die zuvor Mitglieder des abgesetzten Regimes und deren Anhänger innegehabt hatten. Dies traf nicht nur für die Regierung und das Militär zu, sondern zog sich durch das gesamte alltägliche Leben, wo jede Stelle in Schulen und Geschäften, Gaswerken und Theatern unter der Fuchtel der herrschenden Eliten gestanden hatte, solange man zurückdenken konnte.
Obwohl sie sich nur ein einziges Mal, als junges Mädchen, innerhalb der Mauern der Gesellschaft aufgehalten hatte, war ein Bild davon in Ds Erinnerung verblieben, das Bild vom »Großen Saal«, wo sie eines Morgens darauf gewartet hatte, dass ein Dienstbote ihren älteren Bruder holte, der damals Juniormitglied gewesen war. Der rot-goldene Teppich auf dem Boden hatte für ihre Kinderaugen so dick ausgesehen, dass man eine Murmel darin verstecken könnte. Die hohen Regale an den Wänden waren voller Bücher. An einem Schreibtisch hatte sich eine Frau in dramatischem Blau über ein dickes Buch gebeugt und Linien mit Kompass und Lineal markiert. Auf einer ordentlichen kleinen Bühne war eine Ausstellung von Zaubertricks aufgebaut. Von der Decke hing ein großes Mobile des Sonnensystems, dessen Zentralgestirn so groß wie ein Krocketball war und dessen elf Planeten die Größe von Billardkugeln hatten. Und vor dem Kamin hatte ein feiner Herr in Tweedhose in einem Ledersessel gesessen und mit einem Lächeln auf den Lippen und unter den Achseln eingeklemmten Händen geschlafen.
In den schwierigen Jahren im Anschluss an ihren einmaligen Besuch hatte sich D oft in die Vorstellung von der Ruhe und den Möglichkeiten zurückgezogen, die dieser geräumige und zivilisierte Raum zu bieten schien. Wenn solch ein perfekter Raum in einer Stadt wie dieser in aller Stille existieren konnte, vielleicht verbarg sich dann dahinter noch etwas anderes, etwas mehr – ein anderer Teil des Lebens.
Ihr Besuch der Gesellschaft und ihres Großen Saals hatte vor etwa fünfzehn Jahren stattgefunden, zu einer Zeit also, als die Auflehnung gegen die Wohlhabenden und Mächtigen noch unvorstellbar war. Nicht lange danach war ihr Bruder Ambrose nach einem kurzen Anfall von Cholera gestorben. Die beiden Ereignisse, der Besuch und Ambrose’ Tod, waren in ihrer Gedankenwelt miteinander verknüpft.
D dachte oft an die letzten Worte ihres Bruders. Sie waren voller Ehrfurcht gewesen, heiser, aber klar. »Ja, ich sehe dich. Dein … Gesicht.«
Wessen Gesicht? Ambrose war absolut verschlossen gewesen, hatte immer Ausflüchte gemacht und manchmal Dinge gesagt, von denen D nicht wusste, ob sie sie glauben oder ernst nehmen konnte. Einmal hatte er ihr erzählt, es gebe andere Welten. Vielleicht stimmte das. D war beinahe sicher, dass er in jenen letzten Momenten etwas gesehen hatte; keine Halluzination, sondern etwas Reales und Erstaunliches