Der narzisstische Kampf um Anerkennung ist nicht nur ein Kampf gegen soziale Konventionen, sondern auch ein Kampf gegen die Begierden des Fleisches. Das öffentliche Bild wird anerkannt, wenn es sich als reine Form präsentiert, wenn es keinen dunklen Raum privater Interessen, Bedürfnisse und Begierden unter seiner Oberfläche vermuten lässt. Andernfalls wird das öffentliche Bild lediglich als Tarnung wahrgenommen – als Mittel zur Erreichung verborgener Ziele.
In seinem Essay über den Begriff der »Gabe« entwickelt Marcel Mauss eine Theorie des symbolischen Austauschs.5 Nach dieser Theorie erlangen Individuen soziale Anerkennung nicht aufgrund ihres Reichtums, sondern durch ihre Bereitschaft, das zu verlieren, was sie haben – durch Geschenke, Wohltätigkeit und überhaupt durch Opfer für das Gemeinwohl, sowie durch verschwenderischen Konsum, exzessive Feste und Kriege. Um seinen sozialen Wert zu steigern, muss man demonstrieren, dass man über Anerkennung und Prestige hinaus keinerlei Wünsche hat. Man kann sagen, dass diese Art von Narzissmus irrational ist, weil sie den rationalen Strategien der Selbsterhaltung und des Erfolgs widerspricht, die wir mit vernünftigem Verhalten verbinden. Tatsächlich ist Vernunft nichts anderes als die Manifestation der Angst vor dem Tod. In unseren Augen sind Individuen vernünftig, wenn sie riskante Situationen vermeiden, die zum Tod führen könnten, und wenn sie Entscheidungen treffen, die ihre Überlebenschancen verbessern. In derPhänomenologie des Geistes schreibt Hegel, dass die Menschen am Ende der Geschichte – welches er mit der Französischen Revolution assoziierte – den Tod als den einzigen und »absoluten Herrn« der Menschheit erkannten: »Diese, welche die Furcht ihres absoluten Herrn, des Todes, empfunden, lassen sich die Negation und die Unterschiede wieder gefallen.«6 Daher wurden Europäer nach der Französischen Revolution vernünftig, engagiert in der Anhäufung von Kapital und dem Aufbau administrativer Karrieren.
So betrachtet ist Narziss unvernünftig: Er ist so sehr in die Betrachtung seines Bildes im See versunken, dass er die Selbstempfindung verliert und vor Erschöpfung stirbt. Wenn wir über das Irrationale sprechen, meinen wir meistens Triebkräfte und Begierden, die Menschen zu Abenteuern, Konflikten und Konfrontationen treiben. Wir sprechen über Energie und Geschwindigkeit, über denélan vital, über Nietzsche, Freud und Bataille. Aber die Versunkenheit in der Betrachtung ist nicht weniger gefährlich und ebenfalls irrational. Wenn ich betrachte, vergesse ich meine Bedürfnisse, ignoriere meine Umgebung, und mein Körper bleibt ungeschützt. Das Lesen eines Buches oder das Betrachten eines Bildes kann dazu führen, dass mir Möglichkeiten entgehen und ich auf Gefahren nicht reagiere. Das passiert besonders dann, wenn ich über etwas nachdenke, das keinen direkten Bezug zu meiner Selbsterhaltung hat. In diesem Fall wird die Vernunft nicht überschritten, sondern einfach ignoriert. Kontemplation ist das Eintauchen in ein Objekt, das bis zur völligen Selbstvergessenheit führen kann, zum eigenen Verschwinden. Dieses Objekt kann eine platonische Idee sein. Es kann Gott sein. Aber es kann auch ein schönes Bild auf der Oberfläche eines Sees sein.
Wir neigen dazu, über Narziss zu sprechen, als ob er von seinem eigenen Bild fasziniert sei. Aber wusste er wirklich, dass dieses Bild sein eigenes Bild war und nicht bloß ein zufälliger Teil der Oberfläche des Sees? Wir wissen es nicht. Wir können uns aber vorstellen, dass er nicht wusste, dass es sein eigenes Bild war und dass er die Schönheit dieses Bildes entdeckte, so wie wir die Schönheit eines Sonnenuntergangs oder einer Blume entdecken. Vielleicht wollte Narziss seine Betrachtung nicht unterbrechen, weil er dachte, dass das Bild während seiner Abwesenheit verschwinden könnte, nicht mehr da sei, wenn er zu diesem See zurückkehrt – so wie ein Sonnenuntergang oder eine Blume nach einer Weile verschwinden. Oder vielleicht bemerkte er, dass das Bild verschwindet, wenn er sich entfernt. Und die Bewahrung dieses Bildes war ihm wichtiger als der Schutz seines eigenen Lebens? Das können wir nicht wissen. Wenn wir sagen, dass Narziss sich selbst geliebt hat, sollten wir hinzufügen, dass er sich selbst nicht auf die gleiche Weise geliebt hat, wie wir es normalerweise tun – denn Selbstliebe wird bei uns im Allgemeinen als egoistische Selbsterhaltung verstanden. Narziss hat sich selbst nicht so geliebt, wie wir uns selbst lieben, sondern so, wie andere ihn bewunderten und liebten – aus der Ferne,