: Roberto Bolaño
: 2666 Roman
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446284708
: 1
: CHF 21.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 1096
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Literatur von einem anderen Planeten: Roberto Bolaños posthum erschienener Jahrhundertroman '2666' über die unaufgeklärte Mordserie an Frauen in Mexiko ist eine atemberaubende Reise ins finstere Herz der modernen Welt. Wir begeben uns auf die Suche nach dem Schriftsteller und ehemaligen Wehrmachtssoldaten Benno von Archimboldi, der in Santa Teresa, einer Wüstenstadt an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, verschwunden ist. Ebendort wurden Hunderte von Frauen Opfer von Vergewaltigung und Mord. Wer sind die Mörder, und was hat Archimboldi mit ihnen zu tun? Das literarische Vermächtnis des aus Chile stammenden und 2003 in Barcelona verstorbenen Bolaño ist Gangster- und Bildungsroman, Science-Fiction und Reportage.

Mit einer Geste, die Pelletier langsam und einstudiert vorkam, hob Johns die rechte Hand und hielt sie Morini dicht vor das erwartungsvolle Gesicht.

»Glauben Sie, wir sind uns ähnlich?« sagte Johns.

»Nein, ich bin kein Künstler«, erwiderte Morini.

»Ich bin auch kein Künstler«, sagte Johns. »Glauben Sie, wir sind uns ähnlich?«

Morini bewegte den Kopf hin und her, und auch sein Rollstuhl bewegte sich. Einen Moment lang sah Johns ihn an, und ein leichtes Lächeln umspielte seine dünnen, blutleeren Lippen.

»Was meinen Sie, warum habe ich es getan?« fragte er.

»Ich weiß es nicht, ehrlich, ich weiß es nicht«, sagte Morini und sah ihm in die Augen.

Der Italiener und der Engländer waren jetzt von Halbdunkel umgeben. Die Krankenschwester wollte schon aufstehen und das Licht anschalten, aber Pelletier legte einen Finger an die Lippen und hielt sie zurück. Die Krankenschwester setzte sich wieder hin. Die Schuhe der Krankenschwester waren weiß. Die Schuhe von Espinoza und Pelletier waren schwarz. Die Schuhe von Morini waren braun. Die Schuhe von Johns waren weiß und dafür gemacht, lange Strecken zu laufen, auf den Straßen einer Stadt genauso wie querfeldein. Das war das Letzte, was Pelletier sah, die Farbe der Schuhe und ihre Form und ihre Ruhe, bevor die Nacht sie in das kalte Nichts der Alpen tauchte.

»Ich werde Ihnen sagen, warum ich es getan habe«, sagte Johns, und zum ersten Mal gab sein Körper die starre und kerzengerade soldatische Haltung auf, und er beugte sich zu Morini herab und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Dann richtete er sich auf, wandte sich zu Espinoza und gab ihm höflich die Hand, tat das Gleiche bei Pelletier und verließ anschließend, gefolgt von der Krankenschwester, den Pavillon.

Als sie das Licht anmachten, wollte Espinoza wissen, ob ihnen nicht aufgefallen sei, dass Johns weder zu Anfang noch nach Ende der Unterhaltung Morini die Hand gegeben habe. Pelletier erwiderte, es sei ihm allerdings aufgefallen. Morini sagte nichts. Nach einer Weile kam wieder die andere Krankenschwester und geleitete sie zum Ausgang. Während sie durch den Park gingen, sagte sie, dass am Eingang ein Taxi auf sie warte.

Das Taxi brachte sie nach Montreux, wo sie für die Nacht im Hotel Helvetia abstiegen. Alle drei waren müde und beschlossen, nicht mehr essen zu gehen. Zwei Stunden später rief jedoch Espinoza auf Pelletiers Zimmer an und sagte, er habe Hunger und wolle schauen, ob irgendwo noch etwas offen sei. Pelletier sagte, das habe er erwartet und er würde mitkommen. Als sie sich in der Lobby trafen, fragte Pelletier, ob Espinoza bei Morini angerufen habe.

»Ja«, sagte Espinoza, »aber es hat niemand abgenommen.«

Sie kamen überein, dass der Italiener schon schlafen gegangen sein musste. Sie trafen erst spätnachts und ein wenig beschwipst wieder im Hotel ein. Am nächsten Morgen suchten sie nach Morini und fanden sein Zimmer leer. Der Empfangschef des Hotels teilte ihnen mit, dass Herr Piero Morini seine Rechnung beglichen und das Haus um Mitternacht des Vortages (während Pelletier und Espinoza in einem italienischen Restaurant beim Essen saßen) verlassen habe, wie man am Computer ersehen könne. Um diese Zeit sei er zur Rezeption gekommen und habe gebeten, ihm ein Taxi zu rufen.

»Er ist um zwölf Uhr nachts abgereist? Wohin?«

Das wusste der Empfangschef natürlich nicht.

Nachdem sie sichergestellt hatten, dass Morini sich in keinem Krankenhaus in Montreux und Umgebung befand, fuhren Pelletier und Espinoza am Vormittag mit dem Zug nach Genf. Vom Genfer Flughafen aus riefen sie bei Morini zu Hause in Turin an. Es meldete sich jedoch nur der automatische Anrufbeantworter, den beide überschwenglich verfluchten. Dann nahm jeder ein Flugzeug in seine Heimatstadt.

Kaum in Madrid angekommen, rief Espinoza bei Pelletier an. Dieser war bereits seit einer Stunde zu Hause und sagte, dass er keine Neuigkeiten Morini betreffend habe. Den ganzen Tag über hinterließen sowohl Espinoza als auch Pelletier kurze und von Mal zu Mal resigniertere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter des Italieners. Am zweiten Tag wurden sie ernstlich nervös und spielten sogar mit dem Gedanken, sofort nach Turin zu fliegen und sich im Falle, dass sie Morini nicht fanden, an die Polizei zu wenden. Aber sie wollten nichts überstürzen und sich nicht blamieren und verhielten sich ruhig.

Der dritte Tag verlief wie der zweite: Sie riefen bei Morini an, telefonierten untereinander, erwogen verschiedene Maßnahmen, erwogen Morinis mentale Verfassung, sein erwiesenes Maß an Reife und gesundem Menschenverstand, und taten nichts. Am vierten Tag rief Pelletier direkt bei der Turiner Universität an. Er sprach mit einem jungen Österreicher, der zeitweise am Germanistischen Institut arbeitete. Der Österreicher hatte keine Ahnung, wo Morini steckte. Pelletier bat, ihn mit der Sekretärin des Instituts zu verbinden. Der Österreicher erklärte ihm, die Sekretärin sei frühstücken gegangen und noch nicht wieder zurück. Pelletier rief sofort bei Espinoza an und erzählte ihm in aller Ausführlichkeit von seinem Anruf. Espinoza sagte, er solle ihn sein Glück versuchen lassen.

Diesmal war nicht der Österreicher am Apparat, sondern ein Germanistikstudent von dort. Das Deutsch des Studenten war allerdings nicht das beste, weshalb Espinoza mit ihm italienisch sprach. Er fragte, ob die Sekretärin des Instituts zurück sei. Der Student erwiderte, er sei allein, offenbar säßen alle beim Frühstück, jedenfalls sei niemand im Institut. Espinoza erkundigte sich, wann in der Turiner Universität gefrühstückt werde und wie lange ein Frühstück gemeinhin dauern könne. Der Student verstand Espinozas fehlerhaftes Italienisch nicht, und dieser musste seine Frage zweimal wiederholen, zuletzt in etwas beleidigendem Ton.

Der Student sagte, er selbst würde zum Beispiel fast nie frühstücken, aber das heiße nichts, Geschmäcker seien eben verschieden. »Haben Sie das verstanden oder nicht?«

»Verstanden«, sagte Espinoza zähneknirschend, »aber ich muss unbedingt mit einem verantwortlichen Vertreter des Instituts sprechen.«

»Sprechen Sie mit mir«, sagte der Student.

Espinoza fragte daraufhin, ob Doktor Morini zu einer seiner Veranstaltungen nicht erschienen sei.

»Moment, lassen Sie mich nachdenken«, sagte der Student.

Und dann hörte Espinoza, wie jemand, derselbe Student, murmelte: Morini … Morini … Morini, mit einer Stimme, die nicht wie seine eigene klang, sondern wie die eines Magiers oder tatsächlich wie die einer Magierin, einer Hellseherin aus der Zeit des Römischen Imperiums, eine Stimme, die sich anhörte wie das Tröpfeln einer Basaltquelle, die aber rasch anschwoll und mit ohrenbetäubendem Lärm überfloss, mit einem Lärm von Tausenden von Stimmen, dem Tosen eines großen, über die Ufer getretenen Flusses, der verschlüsselt das Schicksal aller Stimmen in sich barg.

»Gestern hätte er ein Seminar gehabt und ist nicht erschienen«, sagte der Student nach kurzem Überlegen.

Espinoza dankte und legte auf. Am frühen Nachmittag rief er noch einmal bei Morini und dann bei Pelletier an. Bei keinem der beiden nahm jemand ab, und er musste sich damit begnügen, auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Dann begann er nachzudenken. Aber seine Gedanken gelangten nicht über das gerade Geschehene hinaus, über jene Vergangenheit, die fast noch Gegenwart zu sein scheint. Er erinnerte sich an Morinis Anrufbeantworterstimme, an die Stimme also, die Morini selbst aufgesprochen hatte und die knapp, aber höflich mitteilte, dies sei der Apparat von Piero Morini, man möge eine Nachricht hinterlassen, erinnerte sich an die Anrufbeantworterstimme von Pelletier, die statt zu sagen, dies sei der Anschluss von Pelletier, nur seine Nummer wiederholte, um Missverständnisse zu vermeiden, und dann den Anrufer aufforderte, seinen Namen und seine Telefonnummer zu hinterlassen, mit dem vagen Versprechen, man werde später zurückrufen.

Am selben Abend rief Pelletier bei Espinoza an, und nachdem sie sich gegenseitig die Vorahnungen ausgeredet hatten, die auf ihnen lasteten, vereinbarten sie gemeinsam, ein paar Tage verstreichen zu lassen, nicht in billige Hysterie zu verfallen und stets daran zu denken, dass Morini ein freier Mann sei und tun und lassen könne, was er wolle, was immer das gewesen sein mochte, und sie in diesem Punkt nichts tun konnten ...