I. Integrationsrecht
Es ist seit drei Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit, über die Organisation der europäischen Integration in verfassungsrechtlichen Begriffen und Bedeutungen nachzudenken. Dadurch tritt neben die seit langem diskutierte verfassungsrechtliche Frage, wie Staat und Europäische Union miteinander zu verschrauben sind, die Verfassung der Union als gedanklicher Raum der verfassungsrechtlichen Ergänzung und des verfassungsrechtlichen Wettbewerbs. Staatliches und europäisches Verfassungsrecht verschleifen sich heute in einer Komplexität, die sowohl juristischen Konsens als auch juristischen Widerspruch erlaubt. Die Konzeptionen reichen von einer gemeinsamen Verbundverfassung, in der staatsrechtliche und unionsrechtliche Regeln einen weitgehend homogenen Verfassungskörper formen,[1] bis hin zu einer Gegenüberstellung von staatlichem und europäischem Verfassungsrecht, in der Konflikt (insbesondere im Kompetenzbereich) selbstverständlich ist und der staatliche Letztkontrollanspruch prämiert wird.[2] Die genaue Natur der Verschleifung wirkt zurück auf den staatsrechtlichen Verfassungsraum, dessen Gestaltungsmöglichkeiten der europäischen Integration je nach Konzeption variieren. Dadurch oszilliert das Verständnis dessen, was als Verfassungsrecht der europäischen Integration gelten kann, beständig zwischen den drei Polen Staatsrecht – europäisches Verfassungsrecht – Verschraubungsdogmatik, und jeder neue verfassungsrechtlich vorgetragene Anspruch europäischer Institutionen fordert das staatliche Verfassungsrecht und die Verschraubung mit dem Recht der Europäischen Union neu heraus.
Dieses Flimmern lässt sich nicht in einfache dogmatische Konstruktionen fassen, die vorgeben, lediglich konsentierte, notwendige oder effiziente Anwendungen von Transmissions- und Kollisionsregeln zu sein. Vielmehr ist der genaue Zuschnitt abhängig von institutionellen Beziehungen, politischen Belangen, wirtschaftlichen Bedingungen und soziokulturellen Bedeutungen. All diese Faktoren sind beständig in je eigener Bewegung und verändern sich auf der Zeitschiene. Nicht nur, aber auch in dieser Dynamik liegt der zutreffende Kern der Annahme, dass die europäische Integration in all ihren Aspekten – institutionell und materiell – alsProzess zu begreifen ist, der anders als die nationalen Verfassungskonstrukte ‹noch nicht› in einen zufriedenstellend festgelegten Aggregatzustand übergegangen ist, sondern immer noch als ‹Projekt› verstanden wird.[3] Dieses Volatile, das noch immer kennzeichnend für die Integration ist, frisst sich in das nationale Integrationsverfassungsrecht weiter und führt zu einer Bestreitbarkeit von höchstrichterlichen Integrationsaussagen, die in anderen Bereichen des Staatsrechts in dieser Form nicht bekannt sind.[4]
Dogmatisch schlägt sich dies in einer Simultaneität divergierender Rechtserzählungen nieder, die andere Rechtsbereiche gleichfalls so nicht kennen. Sowohl die legitimierenden Grundlagen im Allgemeinen als auch die interpretatorischen Konsequenzen im Einzelfall sind manchmal so wenig konsentiert wie die Antwort auf die Frage der institutionellen Entscheidungszuständigkeit. Dies betrifft nicht nur die ohnehin recht polyphone Wissenschaft des Integrationsrechts, sondern auch die Praxis der nationalen Gerichte in den 27 Mitgliedstaaten und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Die nationalen Gerichtsbarkeiten formen mit der Gerichtsbarkeit des EuGH eine Doppelhelix an Rechtsaussagen, die in ihrer Gesamtheit Auskunft über den eigentlichen normativen Zustand der europäischen Integration gibt.
Damit sind mehrere Dinge gesagt, institutionell und materiell.Erstens sind – institutionell – nationale Gerichtsentscheidungen nicht einfach kleine Zahnräder im Getriebe eines hierarchisch geordneten Maschinenraums unionsrechtlicher Dogmatik mit dem EuGH an der Spitze. Das innere Verhältnis von nationalen Gerichten und EuGH sieht oberflächlich aus wie eine steife Rangordnung: Es gelten materiell das Vorrangprinzip (EU-Recht ‹schlägt› nationales Recht, wenn es zu einem Konflikt kommt) und institutionell das Vorabentscheidungsverfahren (nationale Gerichte haben gemäß Artikel 267AEUV das Recht und manchmal die Pflicht, dem EuGH Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorzulegen; dieses Verfahren hat der EuGH zunehmend hierarchisch ausgestaltet). Doch unter der Oberfläche handelt es sich eher um eine komplexe Verschlingung, denn «der EuGH kann sagen, was er will; die eigentliche Frage ist, warum ihm irgendjemand gehorchen würde».[5] Denkt man das Verhältnis der Gerichte vom internationalen statt vom staatlichen Recht aus, wird die Rolle nationaler Gerichte als «Lebenssaft im Betriebssystem der Union»[6] sogleich einsichtig, denn im internationalen Recht nutzen nationale Gerichte ihre Rolle häufig, um nationale Souveränität zu schützen und dadurch die Effektivität des Völkerrechts dramatisch zu mindern. Dass es im Unionsrecht, anders als im Völkerrecht, nicht zu einem Effizienzverlust – der bis zur normativen Quasi-Unverbindlichkeit des nicht-staatlichen Rechts reichen kann – kommt, zeigt den Abstand des Unionsrechts vom Völkerrecht. Er bemisst sich einerseits an den Rechtsbehauptungen des EuGH, ohne die es am Rückgrat der Unionsrechtsordnung fehlen würde. Er hat andererseits in gleichem Maße mit der Akzeptanz eines Großteils dieser Behauptungen durch die mitgliedstaatlichen Gerichte zu tun, die nicht in jeder Hinsicht rechtssicher durchgesetzt werden kann. Erleichtert (aber eben nicht erzwungen) wird diese Akzeptanz durch das Vorlageverfahren gemäß Art. 267AEUV, das der wichtigste Kommunikationskanal zwischen nationalen Gerichten und EuGH ist. Hier stehen sich die mitgliedstaatliche und die Unionsgerichtsbarkeit zwar in unterschiedlichen Rollen gegenüber, die aber nicht identisch sind mit denjenigen von Befehlsempfänger und Befehlendem. Die Sprache von Gehorsam und Unterwerfung ist daher nur dann überzeugend, wenn man sich – begrifflich und dogmatisch eng – auf den Oberflächendiskurs der EuGH-Rechtsbehauptungen beschränkt. Unterhalb dieser Oberfläche ist auch dem EuGH deutlich bewusst, dass er in vielerlei Hinsicht auf die freiwillige Kooperation nationaler Gerichte angewiesen ist; die Sprache von unbedingter Rechtsbindung steht im Dienste der Überzeugungsarbeit, die der EuGH gegenüber den nationalen Gerichten leisten muss.
Zweitens wirkt sich diese anspruchsvolle institutionelle Verschränkung – materiell – auf den Gehalt dessen aus, was als Integrationsrecht gelten kann. Die Rolle der nationalen Gerichte kann nicht ohne Konsequenzen dafür bleiben, wie der Inhalt eines unionsrechtlichen Rechtsbefehls zu verstehen ist und wie weit er reicht. Das Recht in der Union ist nicht dasselbe wie das Recht in einem Staat, denn es handelt sich um einen hybriden Rechtsraum, in dem unterschiedliche Verfassungsschichten aneinanderstoßen und sich, mit von Fall zu Fall unterschiedlicher Kraft, Platz zu schaffen versuchen, in dem gegensätzliche politische und rechtliche Vorstellungen aufeinanderprallen und in dem starke und selbstbewusste Akteure unterschiedliche Bedeutungen in identische Worte hineinlesen. Das Recht der europäischen Integration ist nicht identisch mit den Aussagen des EuGH oder gar der Kommission zur Frage, was das Recht der europäischen Integration ist. Es ergibt sich vielmehr aus dem Gespräch der nationalen Gerichte mit dem EuGH. Die Doppelhelix dieses kontinuierlichen Rechtsgesprächs – in der sich rechtliche Positionen je nach politischem, wirtschaftlichem oder sozialem Kontext fortentwickeln, zurückziehen, anlagern, mischen oder gegeneinanderstellen – umreißt das Rechtssystem der Integration, jedenfalls soweit es um die Verschraubung des Unionsrechts mit dem nationalen Recht geht, viel genauer als ein isolierter Strang der Helix.
Diese materiellrechtliche Folgerung aus der institutionellen Konstellation zu ziehen ist nicht gleichbedeutend mit einem Freibrief für nationale Gerichte, Unionsrecht nach eigenem Gutdünken auszulegen...