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Aus den Romanen war nach und nach ein Mensch herausgetreten, der Kramer half, mit den Zweifeln in der eigenen Welt nicht länger allein zu sein und zusammen mit einem anderen in den Abgrund der Zeit blicken zu können. Das leicht aus der Balance geratene seelische Gleichgewicht konnte dadurch stabilisiert werden. Die Hoffnungslosigkeit, die ihm bisher so schwer auf den Schultern lag, war leichter geworden. Er wurde aufmerksamer sich selbst und seiner Umgebung gegenüber. Der Verrohung seines Alltags konnte er den Glanz des Möglichen entgegensetzen. Kramer taumelte nicht länger durch die Korridore seiner Einsamkeit. Jetzt hatte er einen Weggefährten. Wirklichkeit und Vorstellung ließen sich durch Lektüre deckungsgleich übereinanderlegen. Zugleich wuchs der Mut zu selbstvergessener Unbesonnenheit. Ein Abenteuer zeichnete sich ab. Es machte ihn stolz, sich damit von dem intellektuellen Gesindel abzuheben, das ihn für gewöhnlich umgab und sich für das Salz der Erde hielt.
Ministerialrat Kramer erkannte in Remarques Einsamkeit die seine wieder. InsbesondereArc de Triomphe lehrte ihn das Geheimnis des Alleinlebens. Remarques Werte wurden zu Kramers Werten, seine Eigenschaften zu Kramers Eigenschaften, wenngleich diesem bewusst war, dass er bei Weitem nicht so gut aussah wie Remarque mit seinen glatt zurückgekämmten Haaren, den buschigen Brauen über leuchtend blauen Augen. Kramer übte vor dem Spiegel den leicht verhangenen Blick, hinter dem eine gefährliche Gier nach Leben zu lauern schien. Damit, glaubte er, könne er die Frauen beeindrucken.
Immer wenn sich Kramer ungerecht behandelt oder einsam fühlte, wenn er sich einbildete, die Kassiererin im Supermarkt sei unfreundlich zu ihm gewesen, jemand habe ihn scheel angesehen und die Frauen verstünden ihn nicht, fühlte er Remarques Anwesenheit, die ihm Trost spendete. Das anfänglich nur schwärmerische Verhalten, wie es sich in einem Remarque-Schrein mit einem großformatigen Foto des Schriftstellers in Kramers Wohnzimmer ausdrückte, hatte sich gesteigert, sodass irgendwann unmerklich die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit überschritten worden war und sich über die Monate eine regelrechte Besessenheit eingestellt hatte. Ein warnendes Beispiel wie das des Lennon-Mörders Mark David Chapman, das ihm ein wohlwollender ehemaliger Kollege vor Augen geführt hatte, ließ Kramer nicht gelten.
Natürlich führte der Ministerialrat ein Scheinleben. Das war ihm umfassend bewusst. Aber auch ein Schriftsteller wie Remarque führte ein Scheinleben, er war geradezu dazu verpflichtet, das Leben nachzuahmen und in seiner Intensität zu erfassen, es zu beobachten. Die Gefahr für Kramer bestand darin zu glauben, daran teilnehmen zu müssen. Davor war Kramer gerade wegen seiner Bürgerlichkeit nicht gefeit. Der Verlockung, das Scheinleben in die Realität zu überführen, war zu groß. Um in Richtung Resignation und Tod zu schielen, würde später immer noch Zeit genug bleiben. Vielleicht würde an einem trüben Abend im Herbst, nach tagelangem Regen, die Sehnsucht nach einem Menschen hinter dieser Nebelwand unerträglich werden. Im Augenblick galt es, nichts vom Leben in der Möglichkeitsform zu ve