Für den Ausstieg aus einem Streit ist einer der schwierigsten Aspekte die Wahrnehmung, dass unser Anteil am Geschehen doch größer ist, als wir dachten.
Es gehört zum Alltag einer Paartherapeutin, immer wieder zu hören: Wenn doch der andere sich mal verändern würde, dann könnte es endlich besser werden: »Du hast doch gesagt …«, »Nein, das war doch nur, weil du …«, »Quatsch, von dir kommt doch immer …« oder: »Ich habe schon 100-mal …, jetzt bist du mal dran!« Und es gehört ebenso zu meinem Alltag, den Menschen zu erklären, dass sie in der Sackgasse stecken, solange sie darin verharren, nur das »Du« zu sehen. Veränderung vollzieht sich nur, wenn wir auf uns selbst und unsere Anteile schauen und daran arbeiten.
Auch das hat wieder mit der Neurobiologie zu tun: In der Evolution des Menschen war es wichtig, äußere Gefahren zu erkennen. Wenn wir nicht sehr schnell gemerkt hätten, dass der Säbelzahntiger im Busch lauert oder welche Gefahren Blitz und Donner, Überschwemmungen oder das Feuer bedeuten können, wenn wir nicht gelernt hätten, feindseliges Verhalten beim anderen zu lesen und von freundlich-unterstützendem Verhalten unterscheiden zu können, wäre es uns vielleicht so ergangen wie den Dinosauriern. Unser ständing laufender, integrierter Gefahrenscanner – die Neurozeption – hat unser Überleben gesichert.
Demgegenüber gibt es kein vergleichbar sensibles System zur Innenschau. Gröbere innere Meldungen wie etwa Schmerz durch Krankheit, Hunger oder Kälte mobilisieren den Sympathikus zum aktiven Handeln. Feinere innere Meldungen oder das Scannen differenzierterer Befindlichkeiten waren dagegen evolutionär nicht vorgesehen. Fürs Überleben war es nicht wichtig zu sehen und zu spüren: Auf welchem Stresslevel befinde ich mich gerade? Fühle ich mich wohl hier oder wechsele ich lieber das Restaurant? Bin ich müde, ist mir kalt oder langweilig? Sehne ich mich nach Kontakt und Zärtlichkeit? Das sind Luxusfragen, die in der Evolution keinen großen Sinn ergeben hätten.
Heute sind sie umso wichtiger. Unsere existenziellen Bedürfnisse nach Essen, Trinken oder Wärme sind befriedigt, und wir können uns höheren menschlichen Zielen wie der Zugehörigkeit zu Familie und Freunden oder unserer Selbstverwirklichung zuwenden. Heute wäre es oft sinnvoll, innere Zeichen von Überlastung, Sehnsüchten und Bedürfnissen besser lesen zu können. Heute wäre es manchmal hilfreich zu erkennen: Ich bin in Not, darum agiere ich schon defensiv. So könnten wir schneller bewusst die Führung und Verantwortung übernehmen. Aber dies ist nicht automatisch in unserem Nervensystem angelegt, sondern wir müssen die detaillierte Selbstwahrnehmung oft erst im Erwachsenenleben lernen. Das ist auch der Hintergrund, warum der Markt für Achtsamkeit, Wellness und Balance-Angebote so boomt.
Bereits in biblischen Zeiten wurde beschrieben, wie viel leichter es ist, den Splitter im Auge des anderen als den Balken im eigenen Auge zu sehen. Es ist leider nicht zu leugnen: Wir liegen oft richtig mit der Einschätzung des anderen, aber falsch bei uns selbst.
Bereits in den frühesten Anfängen des gegenseitigen Triggergeschehens – noch bevor beiden bewusst wird, dass sie sich eigentlich um Bagatellen straiten – fehlt der Blick zur ehrlichen Selbstwahrnehmung. Ein minimaler Auslöser bewirkt ein Umschalten unseres Nervensystems auf Kampf oder Flucht. Die Bereiche unserer Großhirnrinde, in denen komplexes Denken, Reflexion, Empathie etc. vernetzt sind, sind nicht mehr voll funktionsfähig. Wir sehen die Gefahr eher im Außen denn im Innen. Das Denken ist anfangs zwar noch komplexer, humorvoller und weiter, aber es gibt schon eine beginnende Aktivierung des Sympathikus. Der Herzschlag beschleunigt sich, der Muskeltonus steigt, und die Wahrnehmung fokussiert sich auf die vermeintliche Gefahr. Das kann sich z. B. so auswirken, dass wir die eigenen Anteile nicht sehen, sondern dem anderen eine Kritik scheinbar humorvoll verpacken (beispielsweise »Na, du kannst mal wieder nicht genug kriegen?« oder »Aha, da haben wir ihn wieder, unseren kleinen Langschläfer«).
Warum werden solche Aussagen zum Trigger? Der Grund sind entweder wunde Punkte beim anderen (z. B. die häufige vorausgegangene Kritik »Du bist ja unersättlich« oder »Du erlaubst dir immer auszuschlafen und lässt mich mit der ganzen Arbeit allein!«) und/oder alte Wunden aus der Kindheit (z. B. von den überlasteten Eltern, die ihren Kindern vermittelt haben: »Du willst immer so viel, du bist viel zu anspruchsvoll« oder »Du kriegst ja nichts auf die Reihe, du bist ein Versager«). Das so angesprochene Gehirn reagiert also auf die (scheinbar) humorvolle Aussage wie auf einen Angriff. Hier gelingt es uns noch leicht, den Trigger beim anderen zu lesen. Aber es gelingt uns nicht, die Aktivierung des sympathischen Nervensystems bei uns selbst zu erkennen!
Die Äußerung »Na, du kannst mal wieder nicht genug kriegen?« oder »Aha, da haben wir ihn wieder, unseren kleinen Langschläfer« kann ehrlich liebevoll gemeint sein. Sie kann aber auch nach vorangegangener innerer Eskalation irgendwie »angepisst« rüberkommen – und so auch gemeint sein, ohne dass es dem Sender bewusst ist! Oft gibt es eine entsprechende Vorgeschichte, die den anderen mit Zu