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Bea in Xalanton
Er ist gut. Das muss ich ihm lassen. Ich habe schon Lesungen erlebt, bei denen der Autor mit monotoner Stimme und komplett betonungsfrei seinen Text heruntergerasselt hat, sodass es nicht weiter aufgefallen wäre, wenn er aus dem Hamburger Telefonbuch vorgelesen hätte. Die Zuhörer haben das durch leises Schnarchen honoriert. Tim Bergmann hingegen hört man gerne zu. Er hat eine angenehme Stimme und zieht seine Zuhörer förmlich in seinen Bann. Selbst ich lasse mich nun auf diesen Fantasy-Roman ein. Äh … Dystopie. Sorry.
Zwei Brüder leben in einer scheinbar perfekten Welt. In der Zukunft. Es gibt zwar keine Kriege, keine Krankheiten, keine Konflikte, dafür aber eine diktatorische Herrschaftsform, aber auf den ersten Blick scheint es der Gesellschaft ganz gut zu gehen. Viele der alltäglichen Handlungen und Ereignisse in Tim Bergmanns Roman erinnern an die Lebenswirklichkeit seiner Leser, und genau diese Passagen liest er anfangs auch vor. Äußerst geschickt, wie ich finde. Denn dann lässt der Protagonist allmählich durchblicken, was mit den Menschen in seiner Welt passiert, die nicht so sind, wie das Regime vorschreibt: Alles, was nicht perfekt funktioniert, wird abtransportiert. Weggesperrt. Für wertlos erklärt. Die Konsequenz? Eine Gesellschaft, in der es keine offensichtlichen sozialen und persönlichen Probleme zu geben scheint – aber dementsprechend auch keine wirklichen Menschen mit widersprüchlichen Gefühlen, Mängeln und Bedürfnissen.
Tim Bergmann liest ganz gezielt einzelne Passagen aus seinem Buch, und ja, ich gebe zu, dass ich in einem Werk dieses Genres nicht unbedingt eine solch poetische Sprache erwartet hätte. Und schon gar nicht von diesem Mann.
Die meisten Autoren präparieren sich ein Exemplar ihres Buches für die Lesungen, streichen gewisse Passagen, um den Text zu straffen, und markieren sich Teile, wo sie noch etwas erklären wollen. Tim Bergmann macht das einfach so aus dem Stegreif, und es ist wie ein Sog, ihm zuzuhören. Er hat echte Bühnenqualitäten, das ist mir schon bei seinem Talkshow-Auftritt aufgefallen. (Okay, bis zu dem Moment, als er Dr. Carsten Obermann gesagt hat, er hätte unverhältnismäßig wenig Geschlechtsverkehr, und von der Bühne marschiert ist.) Die Zuhörer hängen an seinen Lippen, und endlich hört Carola auf, ihren Daumen zu benagen und entspannt sich etwas.
Als Tim Bergmann zu Ende gelesen hat, brandet Applaus auf, und der Moderator gesellt sich zu ihm auf die Lesungsbühne – woraufhin Tim Bergmann augenblicklich die Schotten runterlässt. Er verschränkt seine muskulösen Arme und lehnt sich zurück. Körpersprachlich sehr eindrucksvoll. Carolas Daumen findet wieder seinen Weg zu ihren Schneidezähnen, und ich sehe, wie die gesamte anwesende Presse alles zückt, was sie an Arbeitsgerät mitgebracht hat. Unauffällig werden Diktiergeräte in Stellung gebracht und Kameras gehoben. Solange er gelesen hat, waren wir sicher. Jetzt scheint der schwierige Teil zu kommen.
Der Moderator scheint sich selbst nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen. Er setzt ein leicht irres Lächeln auf und spult ein paar Fakten zum Buch ab. Dann wendet er sich an Tim Bergmann.
»Wie erklären Sie sich den spontanen Erfolg vonRache über Xalanton