: Lídia Jorge
: Erbarmen
: Secession Verlag Berlin
: 9783966391207
: 1
: CHF 27.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 430
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dona Alberti sitzt im Rollstuhl, kann ihre Hände kaum noch benutzen, und erzählt einem Aufnahmegerät aus ihrem Leben im Hotel Paraíso, einem Altenheim, wo sie aus freien Stücken lebt, seit ein banaler Unfall sie ihrer Selbständigkeit beraubt hat. Das sind die Koordinaten von Lídia Jorges jüngstem und vielleicht persönlichstem Roman. Die alte Dame erzählt von ihrem Alltag, den Auseinandersetzungen und Freundschaften mit jungen Pflegerinnen und anderen Mitbewohnern, ihrer heimliche Liebe zu einem Mann, der kurz darauf stirbt, ihre nächtlichen Kämpfe mit einem Alter Ego, das ihr schwindendes Wissen herausfordert. Immer wieder kreisen ihre Gefühle um die schwierige Liebe zur Tochter, einer Schriftstellerin, der sie vorwirft, nur deshalb nicht reich und berühmt zu sein, weil sie vom Elend Namenloser erzählt, anstatt endlich Heldentaten berühmter Menschen zu beschreiben. Der Generationskonflikt mit autobiographischen Zügen wird zum Verhandlungsort einer sozial fundierten Poetik. Erbarmen wirft ein kritisches Licht auf unsere Gegenwart, vermeidet aber frontale Angriffe und stellt die Leser stattdessen geschickt vor grundsätzliche Fragen: Was ist Wissen in einer Zeit der totalen Verfügbarkeit von Information? Was zählt wirklich im Leben angesichts der Tatsache, dass wir alle dem Tod entgegengehen? Welche Funktion hat das geschriebene Wort in diesem Zusammenhang? Erbarmen entwickelt einen subtilen Sog, dem man sich kaum widersetzen kann, denn Jorge erzählt meisterhaft von Dingen, die uns alle bevorstehen

Lídia Jorge wurde 1946 in Boliqueime im Süden Portugals geboren. Sie studierte französische Literatur in Lissabon und verbrachte einige Jahre damit, während des Unabhängigkeitskampfes in Angola und Mosambik zu unterrichten. Sie lebt heute in Lissabon. Mit ihren ersten beiden Romanen gehörte sie zur Avantgarde der zeitgenössischen portugiesischen Literatur und hat seitdem zahlreiche renommierte Auszeichnungen für ihre Arbeit erhalten. Im Jahr 2021 nahm Lídia Jorge eine Professur an der Universität Genf an, auf die 2022 die Einrichtung des Lídia-Jorge-Lehrstuhls an der University of Massachusetts Amherst folgte. Ihr Roman Erbarmen wurde mit sechs renommierten Preisen ausgezeichnet, darunter der Médicis étranger 2023 und der Transfuge Prize for the Best Lusophone Novel 2023. Laut portugiesischem Buchinstitut ist Lídia Jorge nach Fernando Pessoa, Eça de Queiroz, Gonçalo M. Tavares und Luís de Camões die am fünfthäufigsten übersetzte portugiesische Autorin. Ihre Romane in deutscher Übersetzung waren bislang im Suhrkamp Verlag erschienen

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Vortag


Ich lag da und wartete darauf, dass die Stunden vergingen und das Wort, das ich durch den Kampf mit der Nacht gefunden und wieder verloren hatte, ganz natürlich in meinem Geist auftauchte, und hörte währenddessen von draußen die Kuckucke und das Krächzen der Amseln und freute mich darüber, dass der Frühling gekommen war. In meiner Vorstellung blätterte ich in aller Ruhe die Seiten meines Atlasses durch, bevor er vernichtet worden war. Denn wenn der Name des Landes, dessen Hauptstadt Baku ist, am Morgen noch nicht auftauchte, würde er am Nachmittag erscheinen. Ich gehöre zu den Menschen, die nicht glauben, dass die Hoffnung als letzte stirbt. Ich glaube, die Hoffnung ist einfach unsterblich. Dieser abwesende Name, der die Auseinandersetzung mit der Nacht unterbrochen hatte, würde auftauchen, wenn ich es am wenigsten erwartete. Ich vertraue voll und ganz auf die Gesetze des Denkens. Sie leiten mich und geben mir Frieden.

Wohl wissend, dass das Wort, das ich suchte, von selbst in Erscheinung treten würde, lauschte ich, wie sich der Morgen hier drinnen zeigte, während die Vögel draußen die Kronen der Kängurubäume verließen, und die Geräusche, die durch die Arbeiten im Haushalt hervorgerufen wurden, sich vermischten. Aus Gründen, die ich nicht kenne, funktioniert mein Kopfkissen manchmal wie ein Lautsprecher. Viele der Geräusche, die das Kissen erreichen, werden unter meinem Kopf verstärkt. So habe ich schon früh mitbekommen, dass sich der Lieferwagen mit den Lebensmitteln in langsamer Fahrt näherte, anhielt und wieder wegfuhr. Der Wasserwagen ächzte am Eingangstor, und etwas, das wie ein Gaskanister klang, rollte mit einem lauten Knall über den Bürgersteig. Da er nicht gegen die Mauer der Blumenbeete prallte, musste ihn jemand aufgehalten haben. Wer ihn wohl festgehalten hatte? Eine Hupe ertönte, ein hoher, scharfer Ton, bestimmt aus Versehen. Ein Mädchen schrie aus dem Fenster, was nicht vorkommen sollte, einige sind schon wegen leiserer Rufe entlassen worden. Das Gebrüll des Mädchens war genauso laut wie das Hupen, auf das es antwortete. Wer sie wohl war? Wenn ich mich nicht irre, ist es die Stimme von Lurdes Malato gewesen.

Oder?

Währenddessen begann hier unten, im Erdgeschoss, jemand, schwere Möbel hin und her zu schieben. Dann klimperte jemand auf den Tasten des Klaviers, und jemand anderes rief am Aufzug im obersten Stockwerk, man solle ihn losfahren lassen. Jemand entgegnete, er stehe im Keller, in der Waschküche. Ein Disput, bei dem die Rufe gehört wurden, aber nicht die Worte. Endlich traf der Aufzug auf dieser Etage ein. Gelächter ertönte. Ich wusste, was los war. Das sind die Bewegungen des Vortages, und der Vortag bringt immer ein Durcheinander. Wir armen Bewohner. So viel Energie auf den Fluren und doch keine Menschenseele an der Tür, um uns guten Morgen zu sagen. Ich dachte daran zu klingeln, um etwas zu bewirken. Ich griff nach der Birne, um sie zu drücken, tat es aber nicht, weil ich befürchtete, die Stimme, die ich aus einem Fenster hatte rufen hören, könnte