Blut
Eine Erzählung
Erstes Kapitel
Anne-Dore sah von ihren Fenstern aus am Rand eines niedrigen Buchenwaldes hin die rote Heide. In leichten Hügeln dehnte sie sich weiter hin, als das Auge reichte, und wenn die Sonne, die von drei Uhr nachmittags ab ihre Zimmer bewohnte, abends hinter die glühenden Schleier sank, die der Atem der Heide aus ihren letzten Strahlen wob, erschien dem Mädchen die Welt unendlich und vollkommen. Die kleinen Kiefern standen schwer und schwarz in rotem Gold, der Wald versank in graue Träume voller Geheimnisse und fremder Graun, nur die rötlichen Felsen fern hinter ihm, niedrig und zerklüftet, wie sie waren, wachten noch eine Zeitlang in den Farben der Abende, deren Stille berückend war, die Schläge der Herzen hörbar machte und die Augen mit großen, kühlen Träumen überschattete.
Seit einigen Jahren war Anne-Dore dies abendliche Bild gewohnt wie eine notwendige Lebenserscheinung, sie hätte sich ihr schlichtes und eintöniges Leben nicht mehr denken können, ohne daßdie Weite der breiten Heide mit ihrem wechselnden Wesen, ihren frohen Lichtern und Farben und ihrer grauen Betrübnis, auch ihrem eigenen Wesen sein Gesicht, ihrem Herzen seine Stellung zu allen Dingen der Welt verliehen hätte. Aber auch die Hügel der Heide, ihre Sträucher und Kiefern, ihre armseligen Strohhütten und die Buchen des Waldes, der sie gegen Süden säumte, schienen Anne-Dore zu kennen und sie in der gleichen Treue zu lieben, in der ihnen das Herz des Mädchens gehörte. Geduldig trugen sie ihr weißes, winterliches Kleid, des neuen Frühlings gewiß, in dem sie für Anne-Dore grünen sollten, für Anne-Dore, die schon als ganz kleines Mädchen mit nackten Füßen und fliegendem Kleid durch ihre sommerliche Pracht gestürmt war.
Eigentlich immer allein. Tiefer im Tal, an den Hügeln, die das Landhaus von der Stadt trennten, standen kleine Bauernhäuser, zu klein und arm, um Gehöfte genannt werden zu können, und doch zu wohlgepflegt und säuberlich, als daß man sie mit den dürftigen Anwesen der Tagelöhner aus der Stadt verwechselt hätte. Mit den Kindern, die dort aufwuchsen, hatte Anne-Dore anfänglich wohl zuweilen gespielt, aber als die frühesten Kindertage vorüber waren, empfand sie einen Unterschied zwischen sich und den anderen, einen Drang nach sich selbst und ihrem Wesen, dem sie gehorchte.Man brauchte nur in ihre Augen zu sehen, in die tiefen, versonnenen Augen, deren Blau so schwer von langen Wimpern überschattet war, daß es nur selten in einem unerwarteten Lichtstrahl seine Farbe verriet. Dann glaubte man wohl zu verstehen, daß diesem Wesen darnach verlangte, ruhig auf sich versenkt, die stille Bahn zum eigenen Werden zu suchen, an dessen Entwicklung niemand Anteil zu haben schien.
Soweit Anne-Dore zurückdenken konnte, kannte sie ihre Mutter nicht anders als still, ergeben und schweigsam. Sie sprach leise und schleppend, ein wenig singend und matt, aber ohne jede Inbrunst des Ausdrucks. Man war dabei nie versucht, sie traurig zu nennen, o nein, eine bestimmte und tiefe Traurigkeit hätte ihrem Wesen vielleicht jene sanfte Würde verliehen, die Menschen adelt, die dem Leben gegenüber verzichtet haben und einen großen heimlichen Schmerz tragen. Nein, das war es nicht, viel eher hatte die Art etwas Schleichendes, eine qualvolle Tugendhaftigkeit und eine laue Anklage machten sich darunter breit. Anne-Dore liebte ihre Mutter nicht und ihr Vater war ihr fremd, denn er hatte die Jahre hindurch, in denen sie Kind war, in fremden Ländern zugebracht, in weiten Reisen, auf denen seine Gattin ihn später nicht mehr begleiten konnte, weil ihre Gesundheit es nicht erlaubte. Und etwas, das wie eine unsichtbareSchranke von je zwischen den Eltern und ihrem Kind gestanden hatte, war deren große Frömmigkeit. Es war eine Frömmigkeit von jener anhaltenden Inständigkeit, die wie eine laue Luft jeden ihrer Gedanken und jede ihrer Handlungen einhüllte. In ihr fanden sie Trost und Ersatz für alle Unbillen eines Daseins, dessen Kämpfen und Mühseligkeiten sie nicht gewachsen waren, in ihr barg sich alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft in einem leuchtenden Reich steter Heimatlichkeit, das in einem Frieden ohne Angst ihr Leben vollenden sollte.
Nun, da Anne-Dore begann älter zu werden, und ihr bedächtiges Herz die Werte prüfte, die es in seine verschlossene Welt nahm, genügten ihr die verzichtreichen Betrachtungen der Eltern selten, der helle Glanz ihres irdischen Himmels erschien ihr wirklicher und köstlicher, als alle Strahlen aus jener zukünftigen Welt. Wohl nahm sie geduldig an allen Kirchgängen und Bibelstunden teil, die ihre Eltern besuchten, aber sie kehrte ermüdet und unbefriedigt in ihre ruhigen Zimmer zurück und in das Mißtrauen, das sie der stillen Freude ihrer Eltern entgegenbrachte, mischte sich langsam der Unwille einer leisen Verachtung.
Am Abendhimmel glühten ihre einsamen Träume, die seltsam wenig Gestalt gewannen, aber ihre Andacht war sinnenfroh und ohne Schranken. Sie behielt ihre Zweifel im Herzen verschlossen, abersie überwachte jedes Wort und jede Gebärde ihrer frommen Eltern und schlief oft im Gefühl eines bösen Triumphes ein, wenn es ihr am Tage gelungen war, tiefgeheim die Mängel und Schäden der elterlichen Seelenwelt zu betasten.
Auf ihren bloßen Knien, im armseligen Schein der kleinen Nachtkerze, betete sie wohl immer noch vor ihrem Bett, bevor sie einschlief, aber ihre Augen wichen denen ihres ungeliebten Gottes aus, während sie sorgfältig und in mühsamer Sammlung ihre gewohnten Sätze sprach. Oft schloß sie ihr Gebet mit den Worten: »Du siehst in die Herzen der Menschen, Herr Jesus Christus, du willst keine Gaben und Opfer, die nicht ohne Vorbehalt gegeben werden, mache mit meinem Sinn, was du für gut hältst.«
Dann brachen oft ihre geflüsterten Worte ab und sie dachte unvermerkt: das ist eigentlich das mindeste, was man von Gott verlangen kann, wenn ihm daran liegt, daß man fromm und gerecht bleibt.
Aber solche Gedanken mied sie und schämte sich ihrer in verborgener Furcht. Erst der tiefblaue Nachthimmel mit der Überfülle seiner silbernen Sterne brachte ihr Ruhe und in i