: Riccardo Nicolosi
: Putins Kriegsrhetorik
: Konstanz University Press
: 9783835397767
: Konstanz University Press Essay
: 1
: CHF 18.00
:
: Kulturgeschichte
: German
: 191
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Rhetorik als Waffe - über Putins Reden als Mittel der Politik. Den Krieg gegen die Ukraine hat Wladimir Putin rhetorisch vorbereitet, eskaliert und durch eine komplexe Argumentation begründet. Das Geflecht aus Legitimationsstrategien mag befremdlich und verstörend erscheinen, es knüpft aber gezielt an den Erwartungshorizont eines breiten, nationalen wie internationalen Publikums an und garantiert ein diffuses Verständnis für die Positionen des Kreml. Der russische Präsident ist dabei kein charismatischer und eloquenter Politiker. Gerade im Vergleich zu seinem Kontrahenten Selenskyj fällt seine Redekunst deutlich ab. Aber Putins Wort ist der Ursprung aller politischen Kommunikationsstrategien im heutigen Russland. Es steckt den Rahmen des politisch Sagbaren ab. Riccardo Nicolosi seziert Putins Kriegskommunikation: von der Parodie westlicher Kriegsbegründungen hin zu einer paranoiden Kausallogik, in der Russland als ewiges Opfer westlicher Hegemonialbestrebungen figuriert; von der Affektrhetorik des Ressentiments zur Mystifizierung des Zweiten Weltkriegs als niemals endendes Ereignis; von der Modellierung des Ukraine-Konflikts als antikoloniale, tektonische Verschiebung in der geopolitischen Weltordnung zur Erhebung des Kriegs als einzig wahre Daseinsform im gegenwärtigen und künftigen Russland. So legitimiert die Macht der Worte die martialische Gewaltanwendung ebenso sehr wie sie den Krieg als Lösung aller Probleme plausibilisiert.

Riccardo Nicolosi ist Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der LMU München und war Fellow am Alfried Krupp Kolleg Greifswald, wo er dieses Buch geschrieben hat.

2. Putins Rhetorik und Rhetorik im Putinismus


Das mangelnde oratorische Charisma hat bei Putin zu einer spezifischen Gestaltung seiner politischen Kommunikation geführt. Es ist kein Zufall, dass der russische Präsident einen zentralen Ort politischer Rhetorik, die Großkundgebung, meidet. Seine bevorzugten oratorischen Situationen sind vielmehr jene, in denen über die Stimmung der in überschaubarer Größe anwesenden Menschenmenge keinerlei Unsicherheit herrscht: monologische Ansprachen vor ausgewähltem Publikum wie feierliche Reden (z. B. zum »Tag des Sieges« am 9. Mai), programmatische Ansprachen vor Staatsorganen (z. B. die jährlich stattfindende Rede zur Lage der Nation vor der Bundesversammlung der beiden Parlamentskammern) und anderen staatlichen Institutionen; dazu gehören auch sorgfältig inszenierte Videoansprachen, die Gattung autokratischer Herrschaft schlechthin. Auf anderen, z. T. pseudo-dialogischen Bühnen, wie zum Beispiel dem »Waldai«-Klub[30] oder dem Petersburger Wirtschaftsforum, folgt der programmatischen Ansprache Putins eine Diskussionsrunde, die in der Regel von Kremlpropagandisten moderiert, d. h. entsprechend gelenkt wird.

In diesen Situationen kann sich Putin auf eine Zuhörerschaft verlassen, die ihm wohlgesonnen ist und Fragen stellt, die im Wesentlichen bereits abgesprochen sind. Seine Redeweise ist hier meist technokratisch-professionell, kontrolliert und konzentriert. Am Rednerpult und auf der Bühne bei Gesprächsrunden fühlt sich Putin sichtlich wohl, da er ununterbrochen über Russland und die Welt belehren kann. Es ist daher kein Zufall, dass ein weiteres Medium der Putinschen Kommunikation die Schriftsprache ist, also Zeitungsartikel und ›wissenschaftliche‹ Essays, die eine klare programmatische Funktion haben. In seinen seltenen Auftritten auf großer Bühne verfällt er hingegen oft in Gebrüll, schneidet verstörende Grimassen, die eher Aggression als Begeisterung ausdrücken. Bezeichnenderweise hat Putin nie einen klassischen Wahlkampf geführt, sich nie auf Debatten mit anderen Kandidaten eingelassen, kaum Wahlkampfreden auf öffentlichen Kundgebungen gehalten. Begründet hat er das mit der Notwendigkeit, ein Präsidentsuper partes zu sein, der sich nicht in die Niederungen des politischen Alltags begebe.[31]

In diesem Aspekt unterscheidet sich Putin deutlich von jener russischen politischen Klasse der 1990er-Jahre, die unter den neuen Bedingungen demokratischer Freiheit die Kunst der öffentlichen Rede auf vielfältige Weise praktiziert hat. So verdankte etwa Putins politischer Ziehvater Anatoli Sobtschak, Bürgermeister von Sankt Petersburg in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre, seinen politischen Aufstieg einer ästhetisch anspruchsvollen, die Masse fesselnden Redekunst.[32] Große Unterschiede bestehen auch zur Rhetorik des Vorgängers im Amt des Präsidenten der Russischen Föderation, Boris Jelzin, dessen Proto-Populismus von der Face-to-Face-Kommunikation mit dem Volk lebte. Als Gegenspieler von Michail Gorbatschow gewann er in den Perestroika-Jahren Zustimmung in der Bevölkerung dank einer dialogischen Rhetorik, die sich vom hölzernen, monologischen Diskurs sowjetischer Parteifunktionäre deutlich abhob. Jelzin suchte den direkten Dialog mit der Bevölkerung, ließ sich auf Frage-Antwort-Situationen ein, die nicht inszeniert waren, und zeigte dabei eine für die Zeit ungewöhnliche rhetorische Anpassungsfähigkeit je nach Situationen und Adressaten.[33]

Putin steht hingegen selten in direktem Kontakt zum Volk als Masse – und das nicht erst seit der Covid-Pandemie, die bei ihm zu einer pathologischen Angst vor Ansteckung geführt hat. Bei seiner dritten Amtseinführung 2012 beispielsweise, als er als amtierender Ministerpräsident vom Regierungssitz in einer Autokolonne zum Kreml fuhr, waren die M