EIN HERZ UND EINE SEELE
Rosa ging durch den Flur voller Kinder. Die aus der fünften Klasse scherten sich nicht darum, dass es verboten war, zwischen den Unterrichtsstunden die Klassenräume zu verlassen, aber sie würde ganz bestimmt nicht dienjenige sein, die auf die Einhaltung der Vorschriften pochte: Die Kinder waren zehn, elf Jahre alt! Sie so in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken war grausam, dachte sie, diese Gefängnisregeln trugen nicht dazu bei, die Kleinen friedfertiger zu machen, im Gegenteil, sie weckten ihren Widerspruchsgeist erst recht. Rosa hatte noch wenig Erfahrung, sie hatte gerade angefangen, als Lehrerin zu arbeiten, und betrachtete die Kinder nicht als Feinde, obwohl sie selbst nicht hätte sagen können, was sie stattdessen waren.
Auf dem Weg zum Lehrerzimmer kam ihr Camille entgegen, der Hausmeister.
»Vorhin hat einer für dich angerufen. Ich hab gesagt, dass du im Unterricht bist. Er hat gesagt, dass er in der Pause nochmal anruft.«
Camilles Gesichtsausdruck – die boshaften kleinen Augen und die sich auf und ab bewegenden Pausbacken, als würde er auf etwas herumkauen – machte Rosa stutzig. Sie blieb stehen.
»Wer war es denn?«
»Was weiß ich denn. Er hat nach dir gefragt. Er hat gesagt: Arbeitet an dieser Schule eine, die Rosa heißt? Ja, hab ich gesagt. Kann sie mal drangehen?, hat er gesagt. Nein, kann sie nicht, hab ich gesagt. Warum nicht?, hat er gesagt. Weil sie im Unterricht ist, hab ich gesagt. Wann ist sie denn zu erreichen?, hat er gesagt …«
»Schon gut, Camille. Ich wollte wissen, ob er sonst was erklärt hat. Warum er anruft oder so.«
»Nein, nichts. Dass er in der Pause nochmal anruft.«
Rosa bedankte sich, betrat das Lehrerzimmer, nahm sich den Ordner mit den Aufgaben für die nächste Stunde vor und vergaß das Gespräch.
Wenn sie keine Pausenaufsicht hatte, blieb sie normalerweise im Lehrerzimmer, trank einen Automatenkaffee und blätterte in der Zeitung. Wenn sie hätte lernen können, hätte sie gelernt – sie hatte keine Festanstellung an dieser Schule, ihr fehlte noch das Staatsexamen –, aber um sie herum war es zu laut, die Gespräche der anderen, an denen teilzunehmen sie sich nicht berechtigt fühlte. Sie überflog die Schlagzeilen und beobachtete aus dem Augenwinkel – aufmerksam und neugierig wie eine Elster –, was ihre Kollegen in ihre Fächer legten oder aus diesen herausholten, all die kleinen glänzenden und geheimnisvollen Gegenstände.
Camille steckte den Kopf zur Tür herein und rief nach ihr.
»Telefon!«
So was Nerviges, dachte Rosa. Warum rief wer auch immer es war, sie nicht einfach auf dem Handy an?
Im Zimmer des Hausmeisters ließ Camille sich ganz in ihrer Nähe nieder und tat, als sei er sehr beschäftigt. M