: Viktor Remizov
: Permafrost Roman
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958906013
: 1
: CHF 26.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 1250
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Grandioses russisches Epos über das ewig Menschliche und Politische: In einer Linie mit Solschenizyn und Tolstoi Die Handlung des Romans spielt in den Jahren 1949-1953 in der abgelegenen sibirischen Siedlung Jermakowo, wo nach einer Laune Stalins ein ebenso gigantisches wie sinnloses Bauprojekt geplant war. Mithilfe von bis zu 120.000 Gulag-Häftlingen sollte am Polarkreis, durch Taiga und Sümpfe eine anderthalbtausend Kilometer lange Eisenbahnstrecke verlegt werden, die den Unterlauf des Jenissejs mit dem Nordural verbindet. Das Projekt wird zur Metapher für den stalinschen Totalitarismus. Wie der Jenissej ist auch dieser Roman ein mächtiger, breiter, ruhiger Fluss - ohne plötzliche, unerwartete Windungen oder Stromschnellen. Bis zu den Verzweigungen der Nebenflüsse erlebt der Leser die vielfältige Schönheit und den Reichtum einer kargen Landschaft, in die der Mensch eindringt, um sie zu unterjochen, zu versklaven und zu zerstören. Und doch: Wenn man einmal an Bord von Kapitän Belows Schlepper gegangen ist, kann man sich der Kraft seiner Strömungen und Unterströmungen nicht mehr entziehen. Der ruhige Erzählfluss fesselt den Leser und lässt ihn bis zum letzten Satz und noch lange danach nicht los. Der Autor schildert menschliche Schicksale zwischen den Mühlsteinen der Geschichte, ohne die Realität zu übertreiben oder literarisch zu verschleiern. Das Böse wird nicht teuflischer geschildert, als es ist, das Gute nicht heiliggesprochen. Jede einzelne Handlung wird als das Ergebnis der emotionalen Entscheidung eines Menschen gezeigt, der versucht, sich selbst treu zu bleiben oder zumindest einigermaßen rechtschaffen im Fluss des Lebens mitzuschwimmen - oder wenigstens nicht darin unterzugehen. Die zunehmend tragische Verflechtung der einzelnen Hauptfiguren entfaltet eine unterschwellige Spannung und emotional nachhaltige Wirkung, der man sich kaum entziehen kann. Viktor Remizov hat für sein Werk, an dem er sieben Jahre schrieb, umfangreiches historisches Material studiert, das ihm die mittlerweile in Russland verbotene Menschenrechtsorganisation »Memorial« zur Verfügung stellte.

Viktor Remizov, geb. 1958, studierte Geologie in Saratow und später russische Philologie in Moskau. Nach dem Studium arbeitete er zunächst als Lehrer und dann 20 Jahre als Journalist. Er hat ganz Russland bereist und viele abgelegene und unzugängliche Orte besucht. Seine ersten Erzählungen schrieb er 1985-86, ohne sie zu publizieren. Remizovs Werke - Romane und Erzählungen - erschienen ab 2004 und wurden ins Deutsche, Französische, Rumänische, Bulgarische, Mazedonische, Estnische und Arabische übersetzt. Für seinen ersten Roman Asche und Staub war er für den renommierten russischen Literaturpreis »Bolschaja kniga« nominiert, mit dem er für den vorliegenden Roman Permafrost im Jahr 2021 ausgezeichnet wurde. Viktor Remizov lebt bei Moskau. Franziska Zwerg, geb. 1969, studierte in Berlin und Moskau. Derzeit lebt sie als Literaturübersetzerin in Potsdam. Sie war im Bereich Theater und Dokumentarfilm sowie im deutsch-russischen Kulturaustausch tätig und hat Werke von Sergej Lebedew, Dmitry Glukhovsky, Dina Rubina, Shamshad Abdullaev, Halina Po?wiatowska, Viktor Martinowitsch u.a. übersetzt.

KAPITEL 1


Es war ein sonniger Tag Anfang Juni. In der Nähe der Siedlung war der Schnee geschmolzen, stellenweise sogar getrocknet, in der Taiga jedoch konnte man in den Niederungen noch hüfttief einbrechen. Die zweite Woche zogen Schwärme von Gänsen und Enten eilig über den Jenissej, zur Tundra, zu den nahen Ufern des Arktischen Ozeans. Sie trugen auf ihren Flügeln keinen frühen, keinen verspäteten, sondern den ganz normalen Frühling des Jahres 1949. Mehr als zweitausend Werst flogen die Vögel über den gewaltigen sibirischen Fluss, der schlammig und menschenleer war, so wie immer im Frühling. Hier, in der Taiga-Siedlung Jermakowo – fünf Hütten und zwei lange Baracken auf dem hohen Ufer – ging es hoch her wie sonst nirgends.

Direkt an die Eismassen waren drei Lastkähne vertäut. Über Landestege, die schief und krumm zwischen Presseishügel gelegt worden waren, liefen Menschen mit Lasten auf den Schultern und rollten Fässer. Dampfwinden zogen aus den Laderäumen Kisten und Ballen. »Hiev!« oder »Ab!« tönte es mal fröhlich, mal mit harschen, antreibenden Fluchworten durch die Frühlingsluft. Die Sonne brannte, die Eisbrocken zerflossen, über nackte Männerrücken lief der Arbeitsschweiß.

So weit das Auge reichte, war das Ufer bei Jermakowo vom starken Eisgang überfrachtet. Weiße, grünliche, doch vor allem schmutzige Eisbrocken hatten sich zu einer unebenen, stellenweise haushohen Wand aufgetürmt, die bedrohlich über dem Wasser hing. Kreischend und juchzend hüpfte eine Kinderschar zusammen mit bleichfelligen Hunden über die Schneehügel.

Selbst in der grellen Sonne sah der Jenissej unwirtlich aus. Die Eismassen waren zum größten Teil vorbeigezogen, aber das Wasser stieg immer noch. Kleine Seitenflüsse brachen durch die Mündungsengstellen, warfen einen vielfarbigen und gefährlichen Wust von Eismassen in den Jenissej. Zeitweise entstanden auf dem Fluss ganze Felder mit aufragenden, winterlich zackigen Presseishügeln und darin eingefrorenem Gestrüpp von Büschen.

Eine solche Eisscholle, schwer und kompakt, strebte auf den sandigen Schweif der Insel zu, peitschte dabei an ihren Rändern verschlammtes Wasser auf. Über die Eisscholle huschte ein Hase. Die Leute hörten auf zu arbeiten. Zwei Seeadler staksten ungeschickt mit ausgestreckten Flügeln über das Eis. Der Hase gab nicht auf, verkroch sich hinter den Eisbrocken. Dort wollten sie ihn schnappen. Er sprang hervor und entschwand erneut in Deckung. Sowohl der Hase als auch die Raubvögel waren nass.

Am Kap der Insel schwamm die Eisscholle dem Ufer zu, verlangsamte ihre Fahrt, vollzog eine Drehung und kroch nun in den ruhigen Durchfluss bei Jermakowo. Der Hase preschte mit angelegten Ohren auf die rettenden Büsche zu. Verzweifelt wollte er wie ein Kanonenschuss über das Wasser auf die Insel gelangen. Nur knapp verfehlte er sein Ziel, plumpste spritzend ins Wasser und wurde sofort kopfüber in die Strömung gezogen. Die Seeadler, die leicht mit ihren Flügeln zusammenstießen, flogen scheinbar schwerfällig, doch rasch auf, und schon zog einer mit ausgestreckten Krallen das graue, zappelnde Knäuel aus dem Wasser. Das Langohr schien in seinen Krallen winzig, es schlug verzweifelt um sich und schrie sogar, wie viele meinten, verstummte jedoch rasch und hing nun wie ein nasser Lappen herab.

Die Frauen am Ufer waren mit Blick auf die davonfliegenden Raubvögel erstarrt. Unteroffiziere und Wachschützen mit entkleideten, b