PrologDarum fürchten wir uns nicht …
… wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen.
Psalm 46,3-4
Kaumi, China, Oktober 1899
„Ob das der richtige Ort für uns ist?“ Verstohlen spähte Johannes neben dem Maulesel um sich. Die schmalen Augen der Chinesen waren seinem Freund und ihm gefolgt, seit sie auf der kerzengeraden Straße durch das Stadttor vonKaumi geritten waren. Mit ruhigen Handbewegungen zwang er sich, die Satteltasche zu lösen. „Etwas scheint mir hier in der Luft zu liegen …“ Sanft tätschelte er den Hals des Tieres.
„Wer wird gleich so furchtsam sein, Bruder?“ Herrmann schlang schwungvoll das Zaumzeug um den Holmen. „Komm, da drüben ist eine Teehütte, fangen wir dort an.“ Mit dem Kinn wies er in Richtung des strohgedeckten Unterstandes, der sich zwischen den dicht gedrängten Häusern an einen weiß getünchten Tempelschrein drückte. Unter dem Reetdach saßen etliche Einheimische, schwatzten und rauchten, während eine Dampfwolke verriet, dass zwischendrin ein Kessel voll Tee brodelte.
„Gib mir noch das Banner zum Ausrollen – nur falls uns die Worte ausgehen.“ Lachend streckte Herrmann ihm die Hand entgegen.
Johannes zog die Rolle aus der Wolldecke hinter dem Sattel hervor und reichte sie ihm. Rhythmisches Hufgetrappel ließ ihn aufhorchen. Eine Gruppe Soldaten in preußisch-blauen Uniformen preschte heran. Vor ihnen her ritt ein Europäer in Zivil, der neben ihnen überrascht sein Pferd zügelte. „Guten Tag, die Herren! Deutsch? Landsleute?“
Sie nickten.
„Was führt Sie ohne Leibgarde in dieses gottverlassene Nest?“
„Wir sind Missionare – evangelisch“, erklärte Johannes knapp. Der Schnösel in seinem schlammhellen Tropenanzug war ihm unsympathisch. „Wir suchen einen Standort für eine neue Missionsstation. Und Sie?“
„Friedrich Kramer mein Name, Ingenieur der Schantung-Eisenbahngesellschaft.“ Er lupfte den Hut und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Chinesen, die sie aus den offenen Ladengeschäften heraus argwöhnisch beäugten. „Nehmen Sie sich in Acht vor diesem Gesindel. Die Boxerrebellen machen Ärger wegen der Verlegung der Bahnstrecke. Die wiegeln das Volk auf und zerstören uns Dämme, Gleisanlagen sowie Telegrafenmasten.“ Nervös sah er sich um, das Pferd tänzelte. „Zum Glück hat unser Gouverneur inTsingtau bereits eine militärische Strafexpedition ausgerüstet, um durchzugreifen.“ Hastig hob er die Hand zum Abschiedsgruß. „Besser Sie verlassen die Stadt, so wie ich. Ich empfehle mich!“ Die Staubwolke bewegte sich weiter in Richtung Stadttor.
„Na, dann los!“ Unbeeindruckt klemmte sich Herrmann das Banner unter den Arm.
Johannes zögerte. „Warte! Was, wenn …?“
„Wir setzen uns einfach zwischen die Männer in der Teehütte und sehen, wie die Stimmung ist.“ Herrmann gab dem Wirt einen Wink und ließ sich auf einer der grob gezimmerten Bänke vor einem der schmalen Tische nieder.
Mit flauem Gefühl im Magen setzte Johannes sich daneben.
Tuschelnd steckten die Einheimischen die Köpfe zusammen.„Yang Guizi“ und„Da bizi“ – „Fremde Teufel“ und „Lange Nasen“ meinte Johannes im Zischen der chinesischen Laute zu verstehen. Er fühlte den Puls am schweißnassen Hemdkragen und bereute, dass sie keine chinesische Kluft angezogen hatten.
Ein junger Bursche in schmuddeliger Schürze servierte ihnen mit erwartungsvoller Miene den Tee.
Herrmann angelte drei Käschmünzen aus der Hosentasche.
„Ist das nicht etwas übertrieben?“ Johannes runzelte die Stirn. „Wir fallen schon genug auf!“
„Hatte es gerade zur Hand. Soll es den Burschen segnen … Vielleicht hat er auch Träume, so wie wir.“ Mit einem verschwörerischen Lächeln zwinkerte er ihm zu, umfasste die Teeschale mit den großen Händen wie Puppengeschirr und nahm einen kräftigen Schluck daraus. „Wie wäre es, wenn wir unseren Brief an die Missionsleitung schreiben, während wir abwarten und Tee trinken?“ Sein Ellenbogen stupste Johannes auffordernd in die Seite.
„Jetzt?“ Ungläubig starrte Johannes seinen Freund an.
„Na, du hast doch sicher Schreibzeug dabei, Herr Lehrer!“ Herrmann grinste. „Hier haben wir Ruhe! Und unser ehrwürdiger Superintendent inTsingtau muss es nicht mitbekommen, dass wir den Brüdern in Berlin unseren Wunsch aufs Neue vortragen.“
Murrend kramte Johannes in seiner Tasche nach Federhalter und Papier. „Ich weiß nicht, ob ich in dieser Teehütte dazu die Muse habe.“
„Mir zuliebe! Oder willst du ewig als Mönch leben?“
Entschieden schüttelte Johannes den Kopf. „Meinetwegen, versuchen wir’s!“ Er strich das Papier auf der rauen Tischplatte glatt und zückte den Federhalter. „Aber du diktierst!“ In den Augenwinkeln sah er, wie sich einzelne Köpfe reckten.
Herrmann räusperte sich. „Liebe Brüder vom Rat der Berliner Mission …“
Die Feder kratzte auf dem Holz geräuschvoll über das Papier. Der Tisch schaukelte leicht. Der Freund suchte nach Worten …
„Nach Gebet und einmütiger Beratung sind wir übereingekommen, euch demütig zu ersuchen, uns Bräute nach China zu senden – gottesfürchtige Schwestern, die ein williges Herz haben, uns als Ehefrauen in der Mission beizustehen. Lange haben wir den Dienst ohne Gehilfinnen versehen, doch nun bitten wir euch dringlich um der Sache Jesu willen …“
Herrmann stockte.
Überrascht sah Johannes auf. Um ihn herum hatte sich eine Traube von Chinesen gebildet, die interessiert jeden Buchstaben verfolgte, den er auf das blütenweiße Papier schrieb.
„Ist das eure Schrift, verehrter Fremder?“, fragte ihn ein alter Mann mit wachen blitzenden Augen auf Chinesisch.
Nickend lächelte Johannes ihm zu.
„Wie viele Schriftzeichen habt Ihr in Eurer fremden Ecke?“ Der Alte strich sich über den langen weißen Bart.
Johannes zögerte mit der Antwort, aber Herrmann platzte damit heraus. „Ungefähr 20 bis 30 Buchstaben!“
„20 bis 30?“ Der Fragesteller legte die Stirn in Falten. „Welche großen Weisheiten kann man mit so wenigen Zeichen abbilden?“
Die Männer um sie herum lachten höhnisch.
Lächelnd fuhr sich Johannes über den kurz geschorenen Bart. Er war sich sicher, dass keiner der Umstehenden alle 70.000 chinesischen Schriftzeichen beherrschte. Aber vielleicht würden sie 5.000 Zeichen kennen? Das würde zum Lesen der Bibel reichen …
„Was, denkt ihr, hat zuerst existiert: Die Welt oder das Wort?“ Fragend sah er in die Gesichter.
Die Männer diskutierten untereinander.
„Sag es uns, verehrter Fremder“, meinte der Alte, „wir finden keine Einigung.“
„Das Wort! Es ging der Schöpfung voraus!“ Schnell schob Johannes den Brief in die Jacke und holte einige Johannesevangelien aus der Satteltasche. „Seht, diese Heilige Schrift! Darin steht, dass Gott selbst das Wort ist. Das bedeutet, er will zu euch sprechen!“
Ein Raunen ging durch die Runde, während er es eifrig aufblätterte. Er hielt ihnen die erste Seite hin: „Hier …, hier ist es in euren eigenen Schriftzeichen geschrieben …“
Ein Kanonenschlag auf der Stadtmauer zerriss die Stille. Ein weiterer ließ den Boden erbeben. Die Hütte schwankte. Schreiend stoben die Männer auseinander.
Erschrocken sprang Johannes auf und rannte hinaus auf die Hauptstraße. Durch das geöffnete Stadttor erblickte er in der Ferne eine berittene Kompanie Soldaten, die sich der Stadtmauer näherte. Über ihnen wehte das schwarze Eiserne Kreuz des deutschen Kaisers.
„Die Strafexpedition!“, rief Johannes entsetzt seinem Freund zu. Panik ergriff ihn.
Herrmann eilte mit der Satteltasche herbei. „Glauben die Chinesen im Ernst, sie könnten deutsche Schutztruppen mit vorsintflutlichen Kanonen abschrecken? Damit täuschen sie Räuberbanden, aber keine Armee … Los, weg hier!“ Hektisch sprang er zur Seite.
Ein voll beladener Karren rumpelte auf einem Rad dicht an ihnen vorbei. Um sie herum schrien und stürzten Menschen im Tumult durcheinander, die Klappläden der Geschäfte fielen krachend zu, Bauern und Händler zogen Tiere und Körbe voll Waren zwischen die Häuser. Eine Handvoll chinesischer Soldaten rannte in Richtung des offenen Stadttors.
„Das Tor! Schließt das Tor!“, tönte es von allen Seiten. Donnernd fielen die Torflügel zu,...