: Lisa Disep
: Reflexion und Professionalität Eine rekonstruktive Studie zu impliziten Reflexionsprozessen frühpädagogischer Fachkräfte
: Beltz Juventa
: 9783779988854
: Kindheitspädagogische Beiträge
: 1
: CHF 39.40
:
: Kindergarten- und Vorschulpädagogik
: German
: 249
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die in der praxeologischen Wissenssoziologie verortete Studie nimmt implizit-praktische Reflexionsprozesse pädagogischer Fachkräfte empirisch in den Blick. Auf der Grundlage von dokumentarischen Videoanalysen wird Reflexion als ein beobachtbares und korporiertes Handeln konzeptualisiert. Darüber hinaus werden Interaktionsmodi rekonstruiert, wie frühpädagogische Fachkräfte in herausfordernden, spannungsreichen Situationen mit Kindern interagieren. Die Studie verfolgt das Ziel, die Bedeutung von Reflexion für die Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte empirisch sowie theoretisch auszuloten.

Dr. Lisa Disep ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Kindheitspädagogik mit Schwerpunkt frühkindliche Entwicklungs- und Bildungsprozesse der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Professionalität und Professionalisierung in der Frühpädagogik, Interaktionsgestaltung und inklusive Bildung

2.1Bildungsansprüche an Kindertageseinrichtungen


Galten Kindertageseinrichtungen lange Zeit überwiegend als Einrichtungen der Nothilfe in einer privaten oder karitativen Zuständigkeit für die Betreuung und Erziehung von Kindern, zeichnet sich seit den 1990er Jahren ein staatliches und gesellschaftliches Interesse ab, die Zeit vor der Schule für gezielte Bildungsimpulse der Kinder zu nutzen (vgl. Honig 2012, S. 92 f.). Während der Betreuungs- und Erziehungsauftrag historisch schon länger verankert ist, weist der Bildungsauftrag hingegen eine etwas jüngere Historie auf und forderte die Kindertageseinrichtungen zu einer Neukonzeptionierung ihrer pädagogischen Arbeit auf. Ungeachtet dessen liegen hier ausführliche systematisch-historische Betrachtungsweisen der Entwicklung der Kindertageseinrichtungen hin zu einer Bildungseinrichtung (vgl. z. B. Honig 2012; Reyer 2015) vor. Auch das Verhältnis zwischen Kindertageseinrichtungen und Schule (vgl. z. B. Reyer 2006a; Konrad 2014; Mierendorff 2014) oder zwischen Familien und Kindertageseinrichtungen (vgl. z. B. Franke-Meyer/Reyer 2010; Cloos/Zehbe/Krähnert 2022) wurde bereits in seiner historischen Entwicklung und den damit veränderten Aufgaben und Erwartungen an die jeweiligen Systeme nachgezeichnet. Im folgenden Abschnitt werden die veränderten Aufgaben und Erwartungen an Kindertageseinrichtungen als Erziehungs- und Bildungsinstitution seit dem ‚PISA-Schock‘ und die damit verbundenen bildungspolitischen Bestrebungen überblicksartig skizziert.

Der dominierende Bildungsdiskurs in Deutschland – aber auch europaweit – ist seit Anfang des 21. Jahrhunderts vorrangig ein bildungsökonomischer Diskurs, in dem (frühe) Bildung in erster Linie als Investition in Humankapital verstanden wird (vgl. Krüger et al. 2010, S. 8; Honig 2012, S. 91): Das Interesse der Nationalstaaten ihr Bildungssystem zu verbessern, lässt sich mit Optimierungsbestrebungen erklären, das Bildungsniveau der Bevölkerung zu erhöhen und sich damit eine wichtige Ressource im globalisierten Wettbewerb zu sichern. Insbesondere die Lebensphase der frühen Kindheit wird dabei als besonders effizienz in Bezug auf die Investition in das Humanvermögen angesehen, sodass zunehmend auf die hohe Rendite frühkindlicher Bildungsinvestitionen hingewiesen wurde (vgl. Heckmann 2000; Pfeiffer 2010, S. 25 f.; Spieß 2013, S. 122 f.). In der Folge stiegen einerseits auch in Deutschland die Erwartungen an mögliche positive Effekte durch den Besuch vorschulischer Bildungs- und Betreuungseinrichtungen (vgl. Anders 2018, S. 185), anderseits wurde auch Kritik an einer solchen Betrachtung früher Bildung laut, die Gefahr läuft, eher den „Interessen einer hochtechnologisierten und flexiblen Wissensgesellschaft, denn denen des einzelnen Kindes zu entsprechen“ (Stieve 2013, S. 51).

Nicht zuletzt durch die ernüchternden Ergebnisse der internationalen Leistungsvergleichsstudien PISA und IGLU in Bezug auf das erreichte Leistungsniveau der deutschen Schüler:innen im internationalen Vergleich und der Hinweis darauf, dass in Deutschland ein vergleichsweise enger Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft der Familien sowie dem schulischen Bildungserfolg besteht (vgl. Baumert/Stanat/Watermann 2006; Ehmke/Baumert 2008; Maaz et al. 2010), führten in Folge des ‚PISA-Schocks‘ zu einer breiten öffentlichen Bildungsdiskussion. Ausgehend von der oben skizzierten bildungsökonomischen Idee wurden die Konzepte „Frühe Bildung und Frühkindliche Förderung zu zentralen Topoi der aktuellen Bildungsdebatte“ (Diehm 2018, S. 12). Zunehmend geriet darüber hinaus in den Fokus, dass die frühkindliche Bildung einerseits das Potenzial bietet, der Bildungsbenachteiligung von Kindern bereits vor dem Eintritt in die Schule entgegenzuwirken und andererseits auch für die weitere schulische Entwicklung einen herausragenden Stellenwert hat, insbesondere mit Blick auf die Verbesserung der Bildungschancen für Kinder aus ‚bildungsfernen Elternhäusern‘ (vgl. Fölling-Albers 2013, S. 39). Die positive Wirkung kompensatorischer Förderprogramme wurde insbesondere durch die Sekundäranalysen von Heckmann und Kolleg:innen empirisch belegt (vgl. Heckmann 2000; Carneiro/Heckmann 2003). Insgesamt kann festgehalten werden, dass sowohl die PISA-Studien als auch die Ergebnisse der Sekundäranalysen, wie kaum ein anderes Ereignis, dem frühpädagogischen Feld bildungspolitische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit sicherten und umfangreiche Reformierungsbemühungen nach sich zogen (vgl. Große/Roßbach 2011). Vor diesem Hintergrund wurden in Deutschland Kindertageseinrichtungen als ‚Bildungsorte‘ entdeckt (Fthenakis 2003) und zum „Hoffnungsträger kompensatorischer Förderung“ (Schmidt/Smidt 2014, S. 133) erklärt. Indessen Folge verschoben sich die bereits im Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1996 verankerten Aufgabentrias von Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindertageseinrichtungen von der Betreuungs- hin zu ihrer Bildungsfunktion (vgl. Rabe-Kleberg 2010, S. 45 ff.).

Diese Erwartungen haben sich schließlich auch in der Entwicklung der bundeslandspezifischen Bildungspläne3 gezeigt, die eine Konkretisierung des eigenständigen Bildungsauftrags der Kindertageseinrichtungen darstellen (vgl. Diskowski 2008). Im Zeitraum von 2002 bis 2006 haben alle Bundesländer Bildungspläne erarbeitet, die für die frühe Bildung die Aufgaben haben, „die Grundlagen für eine frühe und individuelle Förderung der Kinder zu schaffen“ (JMK/KMK 2004, S. 2). Diskowski (2008) konstatiert, dass die Bildungspläne und der von der Jugendminister- und Kultusministerkonferenz (2004) gleichlautende beschlossene gemeinsame Rahmen als fachliche Steuerung und Standardsetzung einen „radikalen Veränderungsschritt“ (ebd., S. 48) darstellten, da zumindest für westdeutsche Kindertageseinrichtungen bis dato kaum eine „zielgerichtete Einflussnahme zur Erreichung beabsichtigter Wirkungen“ (ebd., S. 48) unternommen wurde. Sie gelten demnach als zentrales Steuerungsinstrument für die pädagogische Qualität in Kindertageseinrichtungen, sodass deren Einführung auch als „Abschied von der Unverbindlichkeit der pädagogischen Arbeit“ (Anders 2018, S. 190) bezeichnet wird.

Den Bildungsplänen liegt ein breites Bildungsverständnis zugrunde, dass Bildung vornehmlich als Tätigkeit des Kindes begreift und den pädagogischen Fachkräften keine ‚belehrende‘, sondern eine ‚fördernde‘ Rolle zuschreibt (vgl. ebd., S. 55). Dennoch finden sich in den Bildungsplänen unterschiedliche Bildungsverständnisse, die stärker im Zeichen des Situationsansatzes stehen oder die Bedeutung von Selbstbildungsprozessen (vgl. z. B. Laewen 2002; Schäfer 2011; 2013; Stieve 2011) hervorheben oder Bildung als Ko-Konstruktion (vgl. z. B. Fthenakis 2002; 2003; Stamm 2013) auffassen. Je nach Bildungsverständnis wird eine unterschiedliche Rolle der pädagogischen Fachkraft betont: Während im Kontext der Selbstbildung die pädagogische Fachkraft eher als Begleiter:in von kindlichen Bildungsprozessen adressiert wird, wird mit Bezug auf ko-konstruktivistische Überlegungen der Erwerb von Kompetenzen über anregende Interaktionsprozesse angestrebt (vgl. Zehbe 2021, S. 61 f.). Im Situationsansatz hingegen steht die Begleitung und Initiierung von kindlichen Bildungsprozessen bspw. in Form von Projekten im Fokus. Je nach Bildungsverständnis werden unterschiedliche Anforderungen und Erwartungen an pädagogische Fachkräfte sichtbar, sodass von keinem einheitlichen Begriff frühkindlicher Bildung gesprochen werden kann.

Die bundeslandspezifischen Bildungspläne rahmen die frühpädagogische Arbeit pädagogischer Fachkräfte nun auch curricular, indem sie Themen- und Kompetenzbereiche in verschiedenen Bildungsbereichen für die pädagogische Arbeit vorgeben. Die konkrete Ausgestaltung des Bildungsverständnisses und der Bildungsarbeit wird hingegen den Trägern und Einrichtungen selbst übertagen (vgl. JMK/KMK 2004, S. 2), wonach die Kindertageseinrichtungen als „Bildungsinstitutionen mit eigenem Profil“ (ebd.) beschrieben werden. Dieses eröffnet den Kindertageseinrichtungen bzw. den pädagogischen Fachkräften als zentrale Akteur:innen der Umsetzung der Reformen einerseits einen...