: Lingyuan Luo
: Das Mädchen und der Tod
: Secession Verlag Berlin
: 9783966391023
: 1
: CHF 20.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 248
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Basierend auf einem Sexualverbrechen in Dessau, bei dem 2016 eine junge chinesische Studentin zu Tode gekommen ist, hat Luo Lingyuan einen Roman verfasst, der auf zwei Handlungssträngen basiert: Einerseits die Ankunft der jungen chinesischen Studentin in Deutschland und ihr Werdegang an der Dessauer Universität, ihre Freundschaften und ihre erste, zarte Liebe. Andererseits das Aufwachsen des Täters, sein soziales Umfeld, sein Konsum von Pornografie, sein brutales Denken und sein immer stärker wachsender Wahn einer Allverfügbarkeit des weiblichen Körpers.

Luo Lingyuan, geboren 1963, ist Autorin und Journalistin, studierte Computerwissenschaft und Journalismus in Shanghai und lebt seit 1990 in Berlin. Sie veröffentlichte mehrere Romane und Erzählbände, darunter Die chinesische Delegation und Sehnsucht nach Shanghai. Für den Erzählband Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock! wurde sie 2007 mit dem Adelbert-von-Chamisso Förderpreis ausgezeichnet. 2017 erhielt sie den Erfurter Stadtschreiber-Literaturpreis 2020 war sie Alfred-Döblin-Stipendiatin der Akademie der Künste Berlin. 2023 erschien im Secession Verlag ihr Roman Das fragile Glück der Harmonie.

1. Nach der Landung


Sie sitzt im Flugzeug, schön, elegant gekleidet und selbstsicher. Sie hat gerade einen internationalen Architekturauftrag gewonnen und ist voller Tatendrang. Bei der Landung lächelt sie den vertrauten Wolkenkratzern von Manhattan zu. Das Lächeln einer Siegerin. Bei der Einreise geht sie durch die VIP-Schleuse, steigt in die wartende Limousine und lässt sich in ihr Büro im dreißigsten Stock des One World Center fahren.

Der Blick auf den Hudson befriedigt sie jedes Mal, besonders wenn die Abendsonne den Westen rötet. Lächelnd, während sie telefoniert, bedankt sie sich für den golden schimmernden Tee, den ihr ihre persönliche Assistentin reicht. Ihre zwanzig Mitarbeiter haben sich an dem großen Glastisch versammelt und warten respektvoll, bis sie das Wort an sie richtet. Dann wird das Büro verdunkelt, die Projektion eines futuristischen Gebäudes erhellt den Raum. Mit einer roten Laserlampe und messerscharfen Worten analysiert sie die Stärken und Schwächen des Bauwerks. Im Anschluss bittet sie die Anwesenden um Input. Die Diskussion ist harmonisch, beschwingt und kreativ. Sie kann sich auf ihre Leute verlassen. Übermorgen, für die Präsentation in Brüssel, wird sie mit erstklassigem Material die Kommission überzeugen.

Am nächsten Tag sitzt sie wieder im Flugzeug. Business Class. Der Flug nach Osten ist einfacher: Irgendwann in der Nacht schläft man ein und wacht am Morgen in Europa auf. Aber heute klappt es nicht so wie immer. Sie massiert ihren Nacken, um sich zu entspannen. Sie drückt das Kinn auf die Brust, um die Wirbelsäule zu lockern. Plötzlich sieht sie im Boden der Maschine ein riesiges Loch klaffen. Eisberge treiben im schwarzen Wasser des Nordatlantiks tief unter ihr. Schon reißt sie der Luftstrom vom Sitz und sie stürzt hinaus in die eisige Kälte. Mit einem Schrei wacht sie auf …

Noch halb benommen schaut sie aus dem Kabinenfenster. Dicke Wolken ziehen vorbei. Sie befinden sich wohl schon im Landeanflug. In wenigen Minuten wird sie deutschen Boden betreten!

Ihre Freundin und Kommilitonin Zhao Wanxia, die neben ihr sitzt, schaut sie fragend an. »Das war wohl kein besonders schöner Traum?«

»Eher ein wilder …« Sie lächelt. »Ich war Stararchitektin mit einem Büro in New York und hatte gerade was ganz Grandioses entworfen, als …«

»Wir haben das Masterstudium noch gar nicht begonnen«, lacht ihre Freundin, »und du träumst schon von einer internationalen Karriere? Dein Ehrgeiz ist ja gieriger als die Schlange, die einen Elefanten verschluckt hat. Es wird höchste Zeit, dass wir landen.«

»Träume sind Träu