1. Nach der Landung
Sie sitzt im Flugzeug, schön, elegant gekleidet und selbstsicher. Sie hat gerade einen internationalen Architekturauftrag gewonnen und ist voller Tatendrang. Bei der Landung lächelt sie den vertrauten Wolkenkratzern von Manhattan zu. Das Lächeln einer Siegerin. Bei der Einreise geht sie durch die VIP-Schleuse, steigt in die wartende Limousine und lässt sich in ihr Büro im dreißigsten Stock des One World Center fahren.
Der Blick auf den Hudson befriedigt sie jedes Mal, besonders wenn die Abendsonne den Westen rötet. Lächelnd, während sie telefoniert, bedankt sie sich für den golden schimmernden Tee, den ihr ihre persönliche Assistentin reicht. Ihre zwanzig Mitarbeiter haben sich an dem großen Glastisch versammelt und warten respektvoll, bis sie das Wort an sie richtet. Dann wird das Büro verdunkelt, die Projektion eines futuristischen Gebäudes erhellt den Raum. Mit einer roten Laserlampe und messerscharfen Worten analysiert sie die Stärken und Schwächen des Bauwerks. Im Anschluss bittet sie die Anwesenden um Input. Die Diskussion ist harmonisch, beschwingt und kreativ. Sie kann sich auf ihre Leute verlassen. Übermorgen, für die Präsentation in Brüssel, wird sie mit erstklassigem Material die Kommission überzeugen.
Am nächsten Tag sitzt sie wieder im Flugzeug. Business Class. Der Flug nach Osten ist einfacher: Irgendwann in der Nacht schläft man ein und wacht am Morgen in Europa auf. Aber heute klappt es nicht so wie immer. Sie massiert ihren Nacken, um sich zu entspannen. Sie drückt das Kinn auf die Brust, um die Wirbelsäule zu lockern. Plötzlich sieht sie im Boden der Maschine ein riesiges Loch klaffen. Eisberge treiben im schwarzen Wasser des Nordatlantiks tief unter ihr. Schon reißt sie der Luftstrom vom Sitz und sie stürzt hinaus in die eisige Kälte. Mit einem Schrei wacht sie auf …
Noch halb benommen schaut sie aus dem Kabinenfenster. Dicke Wolken ziehen vorbei. Sie befinden sich wohl schon im Landeanflug. In wenigen Minuten wird sie deutschen Boden betreten!
Ihre Freundin und Kommilitonin Zhao Wanxia, die neben ihr sitzt, schaut sie fragend an. »Das war wohl kein besonders schöner Traum?«
»Eher ein wilder …« Sie lächelt. »Ich war Stararchitektin mit einem Büro in New York und hatte gerade was ganz Grandioses entworfen, als …«
»Wir haben das Masterstudium noch gar nicht begonnen«, lacht ihre Freundin, »und du träumst schon von einer internationalen Karriere? Dein Ehrgeiz ist ja gieriger als die Schlange, die einen Elefanten verschluckt hat. Es wird höchste Zeit, dass wir landen.«
»Träume sind Träu