Es ist schon viele Jahre, genauer sogar Jahrzehnte her, dass ich meine erste Stelle als frisch examinierter Psychologe in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik antrat. Ich erinnere mich gut an einen meiner ersten Patienten, es war ein etwa 12-jähriger Junge, der wegen einer Reihe von Verhaltensauffälligkeiten auf unserer Station aufgenommen worden war. Die Eltern befanden sich in einem hässlichen Scheidungskampf, und Robert, der einzige Sohn, war darin ziemlich verloren. Als ich ihn in einem Einzelgespräch fragte, was er denn selbst vorschlagen würde, wie man ihn davon abhalten könnte, ständig zu klauen, antwortete er mir: »Schlagen! Man muss mich schlagen – so lange, bis ich es endlich kapier’!«
Die Antwort hatte mich damals zutiefst erschreckt. Wie oft mag er genau diesen Satz in verschiedenen Eskalationsstufen innerfamiliärer Auseinandersetzungen gehört haben: »Wann kapierst du’s endlich?!« Wie mag dieses eingefahrene Muster zwischen Eltern und Kind entstanden sein, und was hatte es in der Seele dieses Jungen angerichtet? Zum einen wurde mir bewusst, wie wenig Zugang der Junge selbst zu seiner inneren Verzweiflung hatte, zum anderen hatte er offenbar auch selbst nur ein einziges Bild davon, wie man mit Problemen in der Familie glaubte fertigwerden zu können: Gewalt. Es passte zu der Art, wie die Eltern miteinander umgingen, auch hier tobte ein Kampf, der von seiner Logik her nur mit dem absoluten Sieg der einen und der absoluten Niederlage der anderen Seite enden könnte. Zugleich zeigten sich aber auch die Eltern selbst im Umgang mit dem Kind am Ende ihrer Möglichkeiten. Elterliche Hilflosigkeit ist ja die Schattenseite der Idee von Macht und Kontrolle: Wer sich nicht durchsetzt, hat in diesem Bild »verloren«. Und ihnen standen offenbar kaum andere Möglichkeiten zur Verfügung, als zu eskalieren, zu eskalieren, zu eskalieren – so lange, bis der andere »es endlich kapiert!«
Die Geschichte hat mich damals sehr beschäftigt, wohl nicht zuletzt, da mir die Familie, jeder für sich, durchaus sympathisch war. Und auch, wenn ich damals weder etwas von Systemischer Therapie wusste noch von den Ideen des gewaltlosen Widerstands, erschien es mir nicht angemessen und zu einfach, die Eltern zu verurteilen. Sie waren keine »Monster«, sondern selbst Gefangene eines bestimmten »Mindsets« – eines mentalen Modells des innerfamiliären Umgangs. Sie erlebten, dass es nicht funktionierte und dass die Eskalation sie immer weiter in Richtung des völligen Zerfalls der Familie führte. Und doch waren sie ihm hilflos ausgeliefert. An dem Beispiel wurde mir erstmals deutlich, wie tief der Glaube bei vielen Menschen zumindest unseres Kulturraums verwurzelt ist, es sei möglich, mit Mitteln von Macht, Kontrolle und, ja, auch Gewalt in einen befriedigenden Zustand zwischenmenschlichen Miteinanders zu gelangen. Es ist ein ganzes Glaubenssystem, das Mitglieder einer Familie – und wohl auch Mitglieder anderer sozialer Systeme – miteinander teilen und das sogar Robert mit einbezog, der mir in diesem Kontext natürlich eher als Opfer erschien. Doch wie würde er wohl später einmal seine Kinder erziehen, wenn sie nicht parierten? Vermutlich auch so lange, »bis sie es endlich kapieren« … Ein solches Glaubenssystem, das sich in Kategorien von oben und unten, von Befehl und Gehorsam erschöpft, kann sich tief in einem Menschen festsetzen und sein Verhalten bis in die Intimbeziehungen hinein beeinflussen.
Eine nicht unwesentliche Frage in diesem Glaubenssystem ist die, wie wir »Autorität« verstehen. Gerade zwischen Eltern und Kindern ist Autorität unumgänglich – irgendjemand muss ja am Ende entscheiden, wann das Licht ausgemacht, der Schulranzen gepackt und die Zähne geputzt werden. Und offensichtlich ist es nicht so einfach, den Raum an Verstehens- und Handlungsmöglic