Kapitel 1
Es war der Duft, der sie geweckt hatte. Keine heulende Sirene. Keine Hände, die nach ihr griffen. Kein hastiges Zerren die Treppe hinab. An diesem frühen, stillen Morgen war es einfach nur der Duft, der Anna geweckt hatte. So vertraut, so köstlich.
Es war der schwere, ein wenig saure Geruch von frisch gebackenem Schwarzbrot. Anna liebte Schwarzbrot. Allein bei dem Gedanken an die großen Laibe, die in der Hitze des Ofens vor sich hin waberten, seufzte sie wohlig. Schwarzbrot! Das backte Onkel Matthias nur einmal in der Woche. Heute musste ihr Glückstag sein! Kein Alarm, und dann auch noch Schwarzbrot. Es brauchte fast zwei Stunden, bis es fertig ausgebacken war. Anna war erst elf, aber es gab vieles, was sie schon wusste. Zwei Stunden volle Hitze! Wie viele Briketts dafür wohl nötig waren? Sie würde später Onkel Matthias fragen.
Anna rutschte ein bisschen tiefer ins Bett, so tief, dass ihre nackten Füße die Wand erreichten. Hmmm. »Niemals mehr kalte Füße«, hatte Tante Marie gelacht, als sie in dieses Zimmer gezogen waren, damals, nachdem sie nicht mehr oben bei den Kohns hatten wohnen dürfen. In der engen Kammer unter dem Dach hatten sie im Winter gefroren wie die Schneider. Hier aber, direkt über der Backstube, war es immer herrlich warm. Dafür sorgte der Kamin, der mitten durch den schmalen Raum hindurchging. Anna presste ihre Fußsohlen gegen die Wand. Himmlisch fühlte sich das an. Auch jetzt, im Sommer, konnte sie nie genug davon bekommen. Und Tante Marie hatte natürlich recht behalten. Anna hatte niemals mehr kalte Füße, denn der Ofen bullerte Tag und Nacht.
Sie konnte das Bullern spüren. Es fühlte sich an, als würde ein Riese das ganze Zimmer vorsichtig in seiner Hand hin und her wiegen, mit allem, was darin war, mit dem Bett und der kleinen Kommode und natürlich mit Anna. Dieses Wiegen, dieses sanfte Vibrieren – das war das Feuer, das direkt unter dem Zimmer im Ofen loderte und das Onkel Matthias niemals ausgehen ließ.
Zum Duft des Schwarzbrots gesellte sich nun ein weiterer Geruch. Anna kniff die Augen fest zusammen, sie schnupperte. Dieser Duft war nicht ganz so schwer, und er war nicht ganz so sauer. Er war ein wenig sanfter, doch zugleich durchdringend und schlängelte sich zu ihr hinauf ins Zimmer, strömte durch jede Ritze. Graubrot. So roch Graubrot. Anna lächelte. Und über allem drüber schwebte, ganz leicht und doch unverkennbar, der Duft von frisch gebackenen Brötchen. Kross war dieser Duft und so luftig, dass er gleich weiterschwebte, hinaus in den Hof und durch die enge Gasse.
Anna schnupperte und lächelte weiter still in sich hinein. Sie zog das Daunenbett, dessen Bezug über und über bedruckt war mit gelben Rosen, bis an ihr Kinn. Sie streckte und räkelte sich. Wie ungewohnt es immer noch war, das Bett ganz für sich allein zu haben! So lange sie denken konnte, hatte sie dieses Bett mit Tante Marie geteilt. Und weil Tante Marie das war, was Onkel Matthias mit einem Leuchten in den Augen »wohlgeformt« nannte, war für Anna nur ein klitzekleines bisschen Platz geblieben. In den ersten Wochen ohne Tante Marie hatte sie weiterhin dicht an der Bettkante geschlafen, auf der linken Seite. Weil sie es nicht anders gekannt hatte.
Wenn Anna ganz ehrlich war – aber niemals hätte sie das irgendjemandem verraten, nicht einmal Ruth –, dann vermisste sie Tante Marie nachts. Manchmal. An Tante Marie war alles weich und duftig. Mit ihr im Bett zu schlafen, war, als hätte man ein zusätzliches Daunenkissen gehabt, ein extragroßes, an das man sich ankuscheln konnte, das einem abends ein Lied sang und morgens einen Kuss auf die Stirn drückte.
Nun aber war Anna bald ein großes Mädchen und konnte allein