: Will Quadflieg, Roswitha Quadflieg
: »Ich will lieber schweigen« Das Tagebuch des Schauspielers aus den Jahren 1945/46 und die Fragen seiner Tochter
: Kanon Verlag
: 9783985681723
: 1
: CHF 20.80
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: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 298
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Was also hast du im Krieg gemacht?« März 1945. Die Rote Armee rückt täglich näher an Berlin heran. Angst und Ver zweifllung grassieren unter der Zivilbevölkerung. Gibt es eine Möglichkeit, zu entkommen? Die Eltern von Roswitha Quadflieg trennen sich. Die Mutter flieht mit zwei Kindern in ihre Heimat Schweden. Der Vater, einer der berühmtesten Schau spieler seiner Zeit, zieht weiter durchs Land, rezitiert Gedichte vor Soldaten der Wehrmacht und fängt an, ein Tagebuch für seine Frau zu schreiben. Als ihre Mutter stirbt, findet Roswitha Quadflieg das Tagebuch zusammen mit zahlreichen Briefen des Vaters. Diese Dokumente zeugen nicht nur von Flucht, Angst, Liebe und der Behauptung einer richtigen deutschen Kultur. Sondern auch von Schuld, falscher Sprache, Lüge und Selbstlüge. Roswitha Quadflieg rekonstruiert 103 Tage im Leben ihres Vaters und konfrontiert ihn posthum damit. Eine beeindruckende Beweisaufnahme, ein erhellendes Zwiegespräch.

Will Quadflieg, 1914 in Oberhausen geboren, 2003 in Osterholz-Scharmbeck gestorben, war einer der profiliertesten, international bekannten, deutschen Schauspieler, der 1937 an der Berliner Volksbühne seine Karriere begann. Er wirkte in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen mit. Zu seinen bekanntesten Rollen zählt der Faust in der Inszenierung von Gustav Gründgens (1957). Das Fernsehpublikum begeisterte er in Dieter Wedels Vierteiler »Der große Bellheim« (1992). Bis kurz vor seinem Tod stand er auf der Bühne.

19. März 1945

Heute will ich den Versuch machen, ein Tagebuch zu beginnen.Göttingen 19.III.45

Mitten im chaotischen Treiben der deutschen »Flüchtlingsvölkerwanderung« beginne ich nun in Nordhausen aufzuzeichnen, was mir so durch den Kopf geht. – Da alles, aber auch alles überfüllt ist, und heute kein Zug mehr weiter geht, verbringe ich die Nacht in einem Raum der N.S.V., mitten zwischen Flüchtlingen, die in langen Reihen auf der Erde und auf Stühlen schlafen. Ob ich morgen Dessau erreiche zu einer noch passenden Zeit, um die Vortragsstunde zu halten, ist sehr fraglich. Ich glaube, nun sind auch diese Einsätze bald unmöglich.

Meine Gedanken gehen oft und oft zu Benita und den Kindern in Lübeck. Wann kommen sie nach Schweden? da die Zeit doch so drängt? – Wie sind wir alle wunderlich getrennt! Und doch ist die ruhige Hoffnung in meinem Herzen, dass wir alle es überstehen und uns wiedersehen werden. – In ganz wenigen Tagen geht dieser Krieg zu Ende, das fühle ich stark.Was dann kommt, ist gar nicht zu ermessen. Ich bin langsam sehr müde – ich habe zu wenig Ruhe und Schlaf gehabt. – Die Goethe Stunde vor dem Ensemble des Göttinger Theaters war für mich eine große Freude; und der Aufenthalt bei der Familie Ernst sehr sympathisch. – Das Leid all der armen übermüdeten Kinder geht mir besonders zu Herzen. – Wie wird dieses Volk geprüft! Ich will mich auf einen zugedeckten Billardtisch legen und versuchen da etwas zu schlafen.

19.III.45, 23 Uhr

19. März 45

Ein Montag. Da das Göttinger Theater (ab 1950 Deutsches Theater Göttingen) bereits seit September 1944 wegen Verschärfung der Kriegslage geschlossen ist, muss die Goethe-Rezitation am Vorabend in einem anderen Rahmen stattgefunden haben. Vielleicht bei der erwähnten Familie Ernst? Unmöglich, etwas über sie herauszufinden. Und vielleicht auch nicht so wichtig? Das wird bei jedem Tag, bei jeder Eintragung abzuwägen sein, was dazu herauszufinden Sinn macht, um das Gesamtbild dieser Zeit deutlicher werden zu lassen. Diesen winzigen Ausschnitt großer Weltgeschichte, durch den du dich bewegst und den du hier festgehalten hast. Manchmal werde ich auch auf kleinen Nebenstecken das Gesamtbild umkreisen.

Laut deinenErinnerungen bist du selbst Mitte Februar 1945, also erst einen Monat zuvor, unter abenteuerlichen Bedingungen mit dem Flüchtlingsstrom aus Breslau (heute Wrocław in West-Polen) zurückgekommen, wo du angeblich vor ungarischen Soldaten und Zivilbevölkerung rezitieren solltest (wozu es aber nicht mehr gekommen war). Detailgenau schilderst du, wie du zwei Wochen lang einen Treck mit fünf Rollwagen und drei Kutschen bei minus 30 Grad bis Torgau geführt hast. Die letzte Strecke nimmt dich jemand im Auto mit, du gelangst unversehrt in die Reichsstraße 105 (nahe dem Theodor-Heuss-Platz), wo deine schwangere Frau und deine beiden Kinder auf dich warteten. Welch ein Glück! Ich wundere mich, dass dein Tagebuch ohne jedwede Erwähnung dieser gerade überstandenen Strapaze beginnt. Auch in keinem deiner drei Briefe, die du Anfang März 45 an Benita schreibst und mit deren Hilfe ich mich in eure damalige Lebenssituation einzufühlen versuche – Benita befindet sich bereits in Lübeck, der ersten Etappe ihrer Flucht –, ist die Rede davon. In deinenErinnerungen hingegen belegt die Schilderung des Trecks mehrere Seiten und ist so kenntnisreich, dass sich mir die