04
4. Oktober
Dervio und Bellano
Am nächsten Morgen ruft Aurelio die Carabinieri an, um sich nach Vermisstenanzeigen zu erkundigen. Nur ein Fall passt auf das Profil eines etwa 50-jährigen Mannes. Ein Veterinär aus Dervio, Dottore Giorgio Colombo, ist gestern von seiner Nachbarin als vermisst gemeldet worden. Aurelio schildert seine Vermutung. Er selbst wolle sich um die Sache kümmern. Dem Polizisten ist es recht, er nennt die Adresse der Nachbarin.
Am Nachmittag fährt Aurelio am Seeufer entlang nach Norden. Nicht einmal fünf Kilometer sind es bis Dervio. Dort klingelt er bei der Nachbarin. »Aurelio Campanna. Guten Tag, und entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich komme wegen der Vermisstenanzeige, die Sie aufgegeben haben.«
»Haben Sie ihn gefunden?«, platzt die Frau heraus. Ob er Polizist oder was sonst er ist, will sie gar nicht wissen. Aurelio zeigt ihr ein Foto, das er mit seinem Smartphone in der Casa gemacht hat. »Ist er das?«
Die Nachbarin stöhnt auf. »Ja, das ist Giorgio. Aber er sieht so mitgenommen aus. Und was trägt er da für Sachen? Ist er krank? Was ist denn passiert?«
Aurelio erzählt ihr, wie sie den Veterinär auf dem Monte Croce di Muggio gefunden und ins Hospital gebracht haben. »Er hat keine Verletzungen, benimmt sich aber seltsam. Und er spricht nicht, also nicht wie ein Mensch. Wir haben ihn gestern in die Casa San Francesco gebracht.«
»Zu den Konfusen?« Die Nachbarin reißt die Augen auf.
»Ich denke, man kümmert sich dort sehr gut um ihn. Ich müsste jetzt seinen Ausweis oder irgendwelche Papiere haben. Und vielleicht die Adressen von Verwandten oder Freunden, die informiert werden sollten.«
»Verwandte hat er nicht.« Die Frau schüttelt den Kopf. »Und Freunde eigentlich auch nicht. Er bleibt sehr für sich, wissen Sie. Eigentlich spricht er nur mit seinen Patienten. Das heißt, mit deren Besitzern. Aber er hat mir einen Schlüssel gegeben. Nur zur Sicherheit natürlich. Er ist doch so oft unterwegs und mit seinen Vogelsachen beschäftigt. Wir können nachsehen.«
Sie verschwindet kurz und kommt mit einem Schlüsselbund zurück. Zum Nachbarhaus sind es nur wenige Schritte. Im Untergeschoss ist die Praxis. Hier ist alles penibel aufgeräumt, ein Büro scheint es nicht zu geben.
»Wo könnte er seine Dokumente haben? Führerschein, Pass und dergleichen?«
»Wahrscheinlich oben.«
Eine schmale, gewundene Treppe führt in den ersten Stock. Drei Zimmer und ein Bad. Ein Schlafzimmer, geradezu asketisch möbliert, ein Büro, das offenbar der Verwaltung der Tierarztpraxis dient, und schließlich ein Raum, der etwas mehr über seinen Bewohner auszusagen verspricht. An den Wänden Regale mit großformatigen Bildbänden, Fotoalben, Tonbandkassetten und Notizbüchern mit aufgedruckten Jahreszahlen. Auf dem großen Schreibtisch vor dem Fenster liegt eine analoge Kameraausrüstung, die womöglich einmal ei