1. KAPITEL
„Was ist denn da los?“
Georgia sah bei dem scheußlichen Wetter nichts weiter als eine Reihe aufleuchtender Rücklichter. Behutsam tippte sie aufs Bremspedal, froh darüber, dass sie genug Abstand zum Auto vor ihr gelassen hatte.
Ihr Wagen kam schlitternd zum Stehen, sofort schaltete sie die Warnblinkanlage an. Warum sie hatte halten müssen, konnte sie wegen des dichten Schneetreibens nicht ausmachen. Obwohl es noch nicht Abend war, konnte man die Hand kaum vor Augen erkennen.
Im Radio hatte es Warnungen vor dem Schnee gegeben, aber keine Informationen zur Straßenlage oder zu Staus. Immer wieder wurde der Song „Driving Home for Christmas“ von Chris Rea gespielt, während die Scheibenwischer den Schnee nur mit immer größerer Mühe bewältigten.
Nun war der Verkehr also komplett zum Stillstand gekommen. Bisher hatte Georgia ihre langsam steigende Panik im Zaum halten können und sich eingeredet, alles wäre in Ordnung. Da war wieder einmal ihr verrückter, hemmungsloser Optimismus am Werk gewesen. Würde sie es denn niemals lernen?
Ganz vorne, vor der langen Reihe von Rücklichtern entdeckte sie nun den aufblitzenden Schein eines Blaulichts. Von hinten kamen weitere Einsatzfahrzeuge und fuhren an der Autoschlange vorbei. Seit einiger Zeit war kein Wagen aus der Gegenrichtung vorbeigekommen. Demnach musste da etwas Schlimmes passiert sein.
Sie konnte aber nicht hier sitzen und warten, bis die Fahrbahn geräumt war! Das Wetter wurde immer schlechter, und sie wollte nicht hier stranden, wo sie doch beinah zu Hause angekommen war. Nur noch zehn Kilometer, und sie wäre am Ziel.
Georgia biss sich auf die Lippe. Es gab eine Ausweichroute, eine schmale Landstraße, die sie nur allzu gut kannte. Einen Weg, den sie früher oft als Abkürzung benutzt hatte, aber heute gemieden hatte. Und das nicht nur wegen des Schneefalls …
„Was ist, Mummy?“, erklang es auf dem Sitz hinter ihr.
Sie blickte ihren Sohn im Rückspiegel an. „Da hat jemand eine Panne“, erklärte sie. Dass es sich auch um einen Unfall handeln konnte, wollte sie Josh nicht sagen. Er war ja erst zwei, und sie wollte ihn nicht ängstigen.
Sie fasste einen Entschluss. „Aber das macht nichts. Wir fahren auf einem anderen Weg zu Granny und Grandpa und sind gleich bei ihnen.“
„Will Granny jetzt!“ Josh verzog das Gesicht. „Hab Hunger.“
Ihr wurde schwer ums Herz. „Mir geht’s genauso, Josh. Aber es dauert nicht mehr lang. Versprochen.“
Behutsam wendete sie das leicht schlitternde Auto und fuhr den Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Straßenverhältnisse wurden immer katastrophaler. Mit wild klopfendem Herzen bog sie schließlich in die schmale Landstraße ein, deren Ränder im Schneegestöber kaum auszumachen waren.
Wenn ich doch bloß früher losgefahren wäre, dachte Georgia und checkte ihr Handy. Kein Empfang!Na toll. Da durfte sie auf keinen Fall stecken bleiben. Meter um Meter kämpfte sie sich vorsichtig weiter.
Der Wind blies heulend den Schnee vom angrenzenden Feld auf die schmale Fahrbahn. Die würde bald blockiert sein, wenn das so weiterging. Georgia gab etwas mehr Gas.
Links ragte plötzlich eine hohe geschwungene Mauer auf, an der Schnee klebte wie Zuckerguss auf einer Torte. Fast geschafft, dachte Georgia erleichtert. Die Mauer lief neben dem Weg her und würde ihr einen Anhaltspunkt über dessen Verlauf geben, bis er in die – hoffentlich geräumte – Hauptstraße mündete.
Nach ungefähr zweihundert Metern tauchte aus dem Schneegestöber ein eindrucksvolles altes Tor mit gemauerten Pfeilern auf, gekrönt von zwei steinernen Greifen. Die schmiedeeisernen schnörkeligen Torflügel ließen sich nicht völlig schließen. Stets halb geöffnet luden sie ein zur Erkundung einer versteckten Welt.
So war es jedenfalls früher gewesen. Georgia hielt an. Jetzt waren die Flügel fest geschlossen. Sie hingen gerade in den Angeln und waren frisch gestrichen. Ganz anders als damals, als sie und ihr abenteuerlustiger Bruder von dem schiefen, halb offenen Tor verlockt worden waren, das Gelände dahinter zu erkunden. Nicht einmal die Furcht einflößenden Greife mit den Löwenkörpern und den Adlerflügeln hatten sie abhalten können. Drinnen hatten sie dann einen geheimen Abenteuerspielplatz entdeckt, der ihre küh