: Victor LaValle
: Die Ballade von Black Tom
: Buchheim Verlag
: 9783946330424
: Cemetery Dance Germany SELECT '24 - LOVECRAFTIAN VIBES
: 1
: CHF 2.70
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: Horror
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Menschen ziehen nach New York auf der Suche nach Magie, und nichts kann sie davon überzeugen, dass es die nicht gibt. Charles Thomas Tester muss um das Essen auf dem Tisch kämpfen und hält sich mit Aufträgen von Harlem bis Red Hook über Wasser. Er weiß, welche Wirkung ein Anzug haben kann, dass ein Gitarrenkoffer unsichtbar macht und welcher Fluch auf seiner Haut geschrieben steht - ein Fluch, der die Aufmerksamkeit reicher Weißer und ihrer Polizisten auf sich zieht. Als er einer alten Zauberin im Herzen von Queens ein okkultes Buch liefert, stößt Tom die Tür zu einer unergründlichen Dimension der Magie auf und erregt die Aufmerksamkeit uralter Wesen, die man besser hätte ruhen lassen. Ein Sturm, der die ganze Welt verschlingen könnte, braut sich über Brooklyn zusammen. Kann Black Tom lange genug überleben, um zu sehen, wie er losbricht? Gewinner des Shirley Jackson Award, des This is Horror Award und des British Fantasy Award Eines der bester Bücher von NPR im Jahr 2016 und Finalist für den Hugo, Nebula, Locus, World Fantasy und Bram Stoker Award. People Magazine:  »Geniale Neuinterpretation eines H. P. Lovecraft-Klassikers.« Alle fünf Bände der 24er-Ausgabe von Cemetery Dance Germany SELECT sind von Vincent Chong illustriert, haben illustrierte Vor- und Nachsatzpapiere sowie 3 Innenillustrationen. HINWEIS Gesamtausgabe& Farbschnitt: Die fünf Bände von Cemetery Dance Germany SELECT'24 - LOVECRAFTIAN VIBES sind ebenfalls als Gesamtausgabe im Sammlerschuber erhältlich. Die Hardcover der ersten Auflage der Gesamtausgabe werden einen digitalen Farbschnitt erhalten. Ein bestehendes CDG-SELECT-Abo (direkt beim Verlag) zählt ebenfalls in Bezug auf die erste Auflage der Gesamtausgabe mit Farbschnitt.

Victor LaValle ist der Autor mehrerer  Kurzgeschichtenbände und Romane, darunter Lone Women und The Changeling, welches von Apple TV+ mit LaKeith Stanfield in der Hauptrolle adaptiert wurde. LaValle wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter der Shirley Jackson Award, der American Book Award, der World Fantasy Award und der Bram Stoker Award.  Vom Supreme Alphabet hat er erstmals mit achtzehn Jahren gehört. Seither benutzt er es ohne Unterbrechung. LaValle unterrichtet an der Columbia University.

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Menschen, die nach New York ziehen, begehen immer den gleichen Fehler: Sie können die Stadt nicht sehen. Das trifft auf Manhattan zu, aber auch auf die Außenbezirke, sei es Flushing Meadows in Queens oder Red Hook in Brooklyn. Sie kommen auf der Suche nach der Magie, sei sie nun böse oder gut, und nichts kann sie überzeugen, dass es die gar nicht gibt. Allerdings ist das gar nicht so übel. Einige New Yorker haben gelernt, diesen Denkfehler zu nutzen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Charles Thomas Tester beispielsweise.

Der wichtigste Morgen fing mit einem Ausflug an, der in Charles’ Wohnung in Harlem begann. Er war angeheuert worden, eine Lieferung zu einem Haus draußen in Queens zu schaffen. Sein Zuhause teilte er sich mit seinem dahinsiechenden Vater Otis, einem Mann, der bereits vor sich hin starb, seit seine Frau nach einundzwanzig Ehejahren verschieden war. Sie hatten ein Kind bekommen, Charles Thomas, und obwohl er jetzt zwanzig war und damit exakt im richtigen Alter, um sein eigenes Leben zu führen, spielte er weiterhin die Rolle des pflichtbewussten Sohns. Charles arbeitete, um für seinen sterbenden Vater zu sorgen. Er legte sich ins Zeug, um Essen und Obdach zu bezahlen und von Zeit zu Zeit ein wenig Geld auf eine Zahl zu setzen. Gott wusste, dass er mehr nicht zusammenbekam.

Kurz nach acht Uhr morgens verließ er die Wohnung in einem grauen Flanellanzug; die Hosenbeine waren umgeschlagen und trotzdem abgestoßen, die Ärmel hingegen auffallend kurz. Guter Stoff, aber ausgefranst. Was Charles ein gewisses Erscheinungsbild verlieh. Er sah aus wie ein Gentleman ohne das Bankkonto eines Gentlemans. Er wählte die braunen Budapester aus Leder mit den ramponierten Zehenkappen und dazu eine dunkelbraune Schirmmütze anstelle eines Fedora. Der Mützenschirm verriet, wie alt und abgetragen das Stück war, doch auch das kam seinem Zweck entgegen. Als Letztes schnappte er sich den Gitarrenkoffer, ohne den sein Ensemble nicht vollständig gewesen wäre. Die Gitarre selbst ließ er zu Hause bei seinem bettlägerigen Vater. In dem Koffer lag nur ein gelbes Büchlein, nicht viel größer als ein Kartenspiel.

Als Charles Thomas Tester die Wohnung an der West 144th Street verließ, hörte er seinen Vater im hinteren Schlafzimmer die Saiten zupfen. Der alte Mann konnte einen halben Tag damit zubringen, mit dem Instrument und seiner Stimme das Radio an seinem Bett zu begleiten. Charles rechnete damit, noch vor Mittag zurück zu sein – mit leerem Gitarrenkoffer und gut gefüllter Brieftasche.

»Who’s that writin’«, sang sein Vater mit heiserer, aber dadurch umso reizvollerer Stimme. »I said who’s that writin’?«

Beim Gehen antwortete Charles mit der letzten Zeile des Chors: »John the Revelator«, peinlich berührt von seiner Stimme, die im Vergleich zu der seines Dads so gar nicht melodisch klang.

In der Wohnung hieß Charles Thomas Tester schlicht Charles, aber auf der Straße kannte ihn jeder als Tommy. Tommy Tester, der stets einen Gitarrenkoffer dabeihatte. Das lag jedoch nicht daran, dass er Musiker werden wollte; tatsächlich konnte er sich kaum ein paar Songs merken und seine Singstimme ließ sich – freundlich ausgedrückt – höchstens als unstet beschreiben. Sein Vater, der seinen Lebensunterhalt als Maurer verdient hatte, und seine Mutter, die ihr ganzes Leben lang als Hausbedienstete arbeitete, hatten beide die Musik geliebt. Dad hatte Gitarre gespielt, und Mutter konnte wahrhaft auf den Klaviertasten lustwandeln. Da war es nur natürlich, dass Tommy Tester gern aufgetreten wäre. Tragisch war nur, dass er kein Talent hatte. Er sah sich selbst als Entertainer. Es gab andere, die hätten ihn eher als Betrüger bezeichnet, als Schwindler und Gauner, aber er selbst dachte niemals so über sich. Kein guter Scharlatan würde so etwas tun.

In der Kleidung, die er gewählt hatte, sah er definitiv aus wie ein schillernder, heruntergekommener Musiker. Er war ein Mann, der Aufmerksamkeit erregte, und er genoss das. Er stolzierte in Richtung Bahnstation, als ob er auf dem Weg zu einem Auftritt wäre, um dort zusammen mit Willie »The Lion« Smith zu spielen