KAPITEL 1
Der Zug klappert wie die Zähne im Schädel eines Toten, als Deacon James gegen das Fenster sackt, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Es fahren nur wenige mit ihm in dem breiten, orange beleuchteten Eisenbahnwaggon. Eine junge chinesische Familie, die Kinder wie Kätzchen auf dem Schoß der Erwachsenen zusammengerollt. Ein Bestatter in seiner Sonntagsuniform, gestärkter Kragen und goldene Manschettenknöpfe an jedem Ärmel. Zwei junge schwarze Frauen, die in sonorem Alt tratschen.
Stottern. Rasseln. Anziehen. Quietschen. Der Zug rattert weiter und singt eine Hymne des Verfalls. Deacon sieht auf, als die Zivilisation der Nacht ihre Endlosigkeit raubt – wie mit einem Pinsel hingetupfte Flecken des Lichts von auf dem Land verteilten Farmhäusern. In der Ferne liegt Arkham an einer dunklen Flussmündung, einem silbernen Flüsschen, das auf das Meer zufließt. Deacon seufzt und schließt seine Finger um den Griff seines Instrumentenkoffers. Die Reise war lang und einsam, geprägt von der Trauer um den Toten und Trauer um sich selbst. Jedes Kind weiß, dass es seine Eltern überleben wird, aber dieses Wissen ist kein Opiat, es kann die Sache nur lindern. Dieses Wissen kann nur für das Vertrauen sorgen, dass eines Tages alles wieder gut sein wird.
Aber noch nicht, noch nicht.
Was sich Deacon mehr als alles andere wünscht, ist, dass ihm jemand sagt, was man in dieser Phase zwischen der Verletzung und der Heilung tun soll – nicht mehr hier und noch nicht dort, während der Schmerz anfängt zu eitern. Was macht man, wenn die Beerdigung vorbei ist, aber das Herz immer noch gebrochen? Wenn all die Trauernden nach Hause gegangen sind, und man selbst bleibt zurück und starrt die Wand an? So verletzt und leer, dass man nicht weiß, ob man jeweils wieder man selbst sein wird.
Er atmet ein, atmet aus. Zieht die muffige, viel zu warme Luft aus der Heizungsanlage des Waggons in seine Knochen, bevor er sich entspannt.Immer nur eine Sekunde, ermahnt sich Deacon. Eine Minute. Eine Stunde. Ein Tag. Immer nur eine Woche auf einmal. Man muss jeden Moment so nehmen, wie er kommt, ansonsten wird man vor Sehnsucht verrückt. Er streicht mit den Fingern über das glänzende Holz. Ganz hinten in seinem Kopf spürt er wieder den Rhythmus von Musik. Sie ist heiß und feucht und salzig wie die Haut einer Geliebten und bettelt um Befreiung.
Aber das wäre rüde, oder? Deacon fährt über die Metallverschlüsse seines Koffers und die Stellen, an denen die Farbe ausgeblichen und abgeblättert ist, abgerubbelt von Schweiß und Fingerspitzen. Im Waggon sitzen Nachtreisende, die einfach nur nach Hause wollen. Ist er kaltblütig genug, um ihre Nachtwache zu unterbrechen?
Die Musik in seinem Kopf zieht an, eifrig und invasiv. Es wäre ja keine Bestrafung. Kann es gar nicht sein. Immerhin kann Deacon singen wie ein Spatz auf dem Dach, zumindest hat man ihm das gesagt. Es wäre gut, säuselt die Melodie zischend.Es würde dir und ihnen guttun.
»Warum nicht?«, sagt Deacon zu niemand Bestimmtem und spürt die Stille. Seine Stimme ist fest und stark, erschallt aus der Tiefe seiner Brust wie der Bass eines Predigers am Sonntag. Einige werfen ihm verstohlene Blicke zu, aber niemand spricht, weil sie zu müde von der Reise sind.Warum nicht, singt die Musik gefühlvoll. Ein ansteckendes Echo drückt von hinten gegen sein rechtes Auge. Obwohl er niemandem sagen könnte, wieso, weiß Deacon, dass der Druck nachlassen wird, sobald er anfängt zu spielen, sobald er Gefühle in Töne verwandelt. Dass sein Schmerz aufhören wird – für eine kleine Weile.
Und wäre es das nicht wert?
Warum nicht, denkt Deacon erneut, ein wenig schuldbewusst, öffnet den Koffer … und das Kupfer seines Saxofons glänzt golden im gedämpften Licht des Zugs. Die Musik in seinem Kopf wird lauter und beharrlicher.
Oh Death von Dock Boggs. Wie wäre es da