: Jolanda Spiess-Hegglin
: Meistgeklickt
: Limmat Verlag
: 9783038552888
: 1
: CHF 17.80
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das Leben von Jolanda Spiess-Hegglin, damals frisch gewählte grüne Kantonsrätin, verändert sich im Dezember 2014 auf einen Schlag: Am Morgen nach der Zuger Landammannfeier erwacht sie mit einem unerklärbaren Filmriss und Unterleibsschmerzen. Nach einer Abklärung im Spital werden Strafuntersuchungen eingeleitet, in ihrem Intimbereich wird die DNA zweier Männer gefunden. Zwei Tage später veröffentlicht die Tageszeitung Blick unter der Schlagzeile «Hat er sie geschändet?» Namen und Bilder Spiess-Hegglins und eines SVP-Politikers. Es folgten eine mediale Hetzjagd mit Hunderten von persönlichkeitsverletzenden und diffamierenden Artikeln in verschiedenen Medien und eine anhaltende Welle von Hass im Netz. Medienkonzerne haben mit ihrer persönlichkeitsverletzenden Berichterstattung viel Geld verdient. Spiess-Hegglin wehrt sich gegen dieses Geschäftsmodell, zieht fehlerhafte Medienschaffende vor Gericht - und gewinnt. Bisher haben stets andere ihre Geschichte erzählt. In diesem Buch erzählt Jolanda Spiess-Hegglin sie erstmals selbst.

Jolanda Spiess-Hegglin, geboren 1980, ist Journalistin, Beraterin und ehemalige Zuger Kantonsrätin der Grünen Partei. Einer grossen Öffentlichkeit bekannt wurde sie im Dezember 2014 durch persönlichkeitsverletzende Kampagnen in mehreren grossen Schweizer Medien, die auf die bis heute ungeklärten Ereignisse an der Zuger Landammannfeier folgten. 2016 gründete Spiess-Hegglin den Verein #NetzCourage, der Betroffene digitaler Gewalt unterstützt und sich für Aufklärung und Prävention einsetzt. Mit der Winkelried& Töchter GmbH berät sie Betroffene von Medienkampagnen. Für ihr Engagement erhielt sie 2021 den Ida-Somazzi-Preis und den FemBizSwiss-Award in der Kategorie Innovation. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Zug.

Zieleinlauf


Irgendwann hörte ich auf, mitzuschreiben. Bei den vielen Zahlen und Prozentwerten, Formeln und Anteilen kam ich beim besten Willen nicht mehr mit. Der Richter war schon beim dritten Artikel, doch ich hatte noch immer nicht erfasst, was er zum ersten alles aufgezählt hatte. Ich klappte den Laptop zu und konzentrierte mich darauf, wenigstens einigermaßen entspannt zu wirken. Es dürfte mir kaum gelungen sein. Ich blickte zu Rena Zulauf, meiner Anwältin, die neben mir saß. Sie versuchte noch hastig, mit ihrem Kugelschreiber alles auf Papier zu bringen, unterbrach kurz und schaute mich an. Genau so lacht sie jeweils, wenn es gute Nachrichten gibt.

Der Richter sprach noch immer von Zahlen in seinem Ostschweizer Dialekt. In diesem Moment realisierte ich, was in diesem kalten Gerichtssaal in Zug kurz vor Ostern 2024 gerade passierte. Und was das für mich, Reto, meine Familie, die drei Gutachter, die Schweizer Medien, künftige Medienopfer und die Nachwelt bedeuten könnte.

Der Gegenanwalt des mächtigen Ringier-Medienkonzerns, der während des Schriftenwechsels die vier vom Gericht längst als persönlichkeitsverletzend beurteiltenBlick-Artikel vehement für durchschnittlich geklickt und nicht gewinnbringend erklärte, schrieb schon länger nicht mehr mit und wippte unter dem Tisch nervös mit seinem Bein. Neben seinem Laptop lag ein ausführliches Gegengutachten von PricewaterhouseCoopers, das Ringier in seine Duplik, also in die Klageerwiderung, eingebaut hatte. Der Anwalt hielt die Arme verschränkt und wirkte niedergeschlagen. Er holte tief Luft, während der Richter weiter vorrechnete und begründete.

Es ging in diesem kargen Raum im Zuger Gerichtsgebäude um die Gewinnherausgabe von vier nachweislich falschen, sexistischen und hochgradig persönlichkeitsverletzendenBlick-Artikeln über mich. Die Besprechung war nicht öffentlich. Sie sollte allen Beteiligten eine Stoßrichtung vorgeben, wie das Gericht das zu erwartende Urteil ausgestalten würde.

Mir fiel auf, dass der Richter, der sich seit einigen Jahren im Rahmen dieses Zivilprozesses mit jeder einzelnen Ziffer und jedem Satz der unfassbaren Masse von Dokumenten, Rechnungen, Herleitungen und Gutachten auseinandersetzen musste, den drittenBlick-Artikel nur «Jolanda Heggli» nannte. Ich fand das einfühlsam und im positiven Sinn bezeichnend. Eigentlich hieß der Artikel «Jolanda Heggli zeigt ihr Weggli».Blick am Abend berichtete darin im Februar 2015 von der Zuger Fasnacht. Geschrieben wurde über johlende Fasnächtler, die sich mit unzähligen von Traktoren durch die Straßen gezogenen Fasnachtswagen mit meinem mehr schlecht als recht nachgebauten riesengroßen Konterfei und Schnitzelbänken über das mutmaßliche Sexualdelikt nach der Landammannfeier 2014 lustig gemacht hatten. Der Artikel an und für sich ist gar nicht so wichtig. Aber er ist ein beispielhaftes Zeugnis dessen, was passiert, wenn man täglich in der Zeitung zum Abschuss freigegeben wird und sich alle Lesenden einen buchstäblichen Reim darauf machen dürfen.

«Jolanda Heggli zeigt ihr Weggli» ist noch aus einem anderen Grund beispielhaft. Eine solche Überschrift wäre heute, zehn Jahre später und vor allem nach #MeToo, undenkbar. Nicht mal mehr in der größten Boulevardzeitung der Schweiz kommt so etwas vor. Mir wurde wieder bewusst, wie viel Zeit seither vergangen ist. Und wie grundlegend sich der gesellschaftliche und mediale Umgang gerade mit mutmaßlichen Sexualdelikten seither verändert hat. Der bürgerliche Richter mit der strengen Brille brachte den vollständigen Titel diesesBlick-Artikels von 2015 einfach nicht über seine Lippen.