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Das heimgesuchteste Haus in Acomb
Es heißt, York sei die heimgesuchteste Stadt in Europa. Als ob ich das nicht wüsste.
Wir wohnen etwas außerhalb in einem schlichten einstöckigen Haus mit einem ungepflegten Vorgarten und einem hässlichen Hauseingang. Nichts Besonderes, könnte man meinen, aber dennoch halten sich im Moment vier tote Seelen in meinem eher winzigen Zimmer auf. Das würde bestimmt in jedem Haus eine überdurchschnittliche Geister-pro-Quadratmeter-Dichte darstellen.
»Hast du keine andere Krawatte, Junge?«, fragt Mr Broomwood. Mein älterer, mausetoter Nachbar gönnt sich gerade eine Pause vom ständigen Abschreiten unserer Sackgasse und ist uneingeladen vorbeigeschneit, um mir seine Meinung zu meinem Outfit mitzuteilen.
Genervt zupfe ich an einem losen Faden des billigen Polyesterstoffs herum. »Was genau gefällt Ihnen an der hier denn nicht?«
Broomwood rümpft schniefend die Nase und verschränkt die Arme über seinem gestreiften Morgenmantel. Die Totensehen nicht tot aus, jedenfalls nicht für mich. Sie wirken quicklebendig, gestochen scharf and kein bisschen durchsichtig.
»Die sieht nicht besonders … professionell aus«, erwidert er.
Ollie lehnt grinsend an meiner Kommode. »Das sagt ausgerechnet der Mann, der sein Nachleben in Schlafanzug und Morgenmantel verbringt.«
Geister erscheinen so, wie sie sich selbst in Erinnerung haben, und verändern nur selten ihr Aussehen. Das ist nämlich gar nicht so einfach – es erfordert eine Menge Selbstwahrnehmung und Broomwood war schon immer jemand, der seine Nase lieber in die Angelegenheiten anderer gesteckt hat, statt sich um seinen eigenen Kram zu kümmern. Vermutlich wird er den Gürtel seines Morgenmantels noch ein paar Jahrzehnte lang hinter sich herschleifen.
»Es ist einDate, kein Vorstellungsgespräch.« Nicht, dass ich viel mehr Erfahrung mit Vorstellungsgesprächen hätte. Nicht mal einen Teilzeitjob kann ich landen, egal, wie viele Bewerbungen ich rausschicke. Ich hole meine Anzugschuhe unter dem Bett hervor und schaue mich nach meinem Schuhlöffel um. Steife Lederschuhe auf meine Prothesen zu ziehen, ist die totale Fummelei. »Das Restaurant, in dem Sam reserviert hat, ist irgendein Nobelschuppen. Ich glaube, es hat sogar Sterne.«
In den letzten sieben Jahren, seit ich an Meningitis gestorben bin, beide Beine unterhalb des Knies verloren und angefangen habe, Geister zu sehen, bin ich nie jemandem begegnet, der so war wie ich. Bis ich Sam kennengelernt habe.
Er hat alles verändert.
Natürlich bin ich damals nicht tot geblieben. Dafür kann ich mich bei Heather bedanken, meinem ersten Geist. Die Ärztin, die mich behandelt und ihr eigenes Leben geopfert hat, um mich von den Toten zurückzubringen und einen Seher aus mir zu machen. Jetzt sitzt sie auf meinem Bett und dreht ihren Krankenhausausweis zwischen den Fingern, wobei ihr Stethoskop sich in dessen Trageband verheddert. Dante, der Geist eines Collies, döst neben ihr.
»Echte oder metaphorische Sterne?«, fragt Ollie. Mit seinem widerspenstigen roten Haar, seinem breiten Mund und seiner Schiebermütze sieht er wie ein richtiges Schlitzohr aus, das mich gleich bestehlen wird. Allerdings ist er schon seit einem Jahrhundert tot und besucht gern Univorlesungen. Heather hat uns einander vorgestellt, als ich elf war. Damals habe ich einen gleichaltrigen Kumpel gebraucht, der das ganze gruselige Zeug versteht, von dem ich meinen lebenden Freunden nichts erzählen konnte. »Metaphorisch bedeutet …«
»Ich weiß, was das bedeutet, alter Mann.« Ich schaue auf mein Outfit hinunter. »So schlecht sieht es gar nicht aus, oder?«
Mal von der grottigen Krawatte abgesehen und davon, dass mein Hemd an den Schultern zu eng ist.
»Also, ich sag dir das jetzt als Freund.« Ollie lächelt verlegen. »Du sieht aus, als würdest du zu deiner Wiederholungsprüfung gehen.«
»Aber in meinem besten Jogginganzug kann ich auch nicht aufkreuzen.« Ich nehme eine meiner Prothesen ab, drehe sie um und klemme das Fußteil in den Anzugschuh. Sobald es drinsteckt, lege ich die Prothese wieder an und hantiere ein wenig mit dem Schuhlöffel herum, bis ich mir sicher bin, dass alles richtig sitzt. Jetzt das andere Bein.
»Also ich finde, du siehst sehr gut aus, Charlie.« Heather schenkt mir ein sanftes Lächeln.
Ollie verdreht die Augen. »Deine Mum würde genau dasselbe sagen, was nichts daran ändert, dass du nicht wiedu