: Isabelle Flükiger
: Gloria. Mohammed. Eine Erzählung von der dunklen Seite des Glücks
: Rotpunktverlag
: 9783039730605
: Edition Blau
: 1
: CHF 18.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 168
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Du hast eine Illegale eingestellt, damit sie sich um deine Kinder kümmert?!« Die Erzählerin ist schockiert, als sie erfährt, dass ihre Freundin eine Sans­Papiers beschäftigt. Doch als sie Gloria aus Kamerun in Lausanne kennenlernt und ihre Geschichte erfährt, kommen Gewissheiten ins Wanken und stellen sich neue Fragen: Wie kann es sein, dass wir Sans-Papiers bei uns arbeiten lassen, ihnen aber den Zugang zu unseren Sozialversicherungen verwehren? Immer weiter dringt die Erzählerin ein in eine ihr neue Welt. Der abgewiesene Asylbewerber Mohammed erzählt von seiner Arbeit auf Baustellen, von Unterhändlern, die illegale Arbeitskräfte vermitteln, und Großunternehmern, die ungeschoren davonkommen. Isabelle Flükiger nimmt uns mit auf eine emotionale und lehrreiche Reise durch dunkle Gebiete der Schweiz. Ihr Roman zeichnet das Leben der beiden Hauptfiguren in einer direkten und klaren Sprache nach, in der Empathie und Empörung, Sarkasmus und feiner Humor mitschwingen.

Isabelle Flükiger wurde 1979 im westschweizerischen Freiburg geboren. Nach ihrem Studium der Politik- und Literaturwissenschaft und einem längeren Berlin-Aufenthalt lebt sie heute in Bern. Von ihren in der Romandie vielfach ausgezeichneten fünf Romanen liegt auf Deutsch Bestseller vor (Rotpunktverlag, 2013), dessen 'Pfiffigkeit und Scharfsinn' (NZZ) von der Presse einhellig gelobt wurde.

Ich rief Gloria an.

Ich schreibe ihren Namen, und sofort höre ich ihre Stimme. Eine samtene Stimme, wie gemacht für Wiegenlieder und Freundlichkeit, mit einem singenden Akzent. Meine Freundin hatte ihr von mir erzählt, Gloria war gerne bereit, mich zu treffen. Wir verabredeten uns bei ihr zu Hause, in Lausanne.

Eine kleine, dünne, braunhäutige, hübsche und adrette Frau öffnete mir die Tür. Ich folgte ihr ins Innere einer gemütlichen Zweizimmerwohnung, hier und da Lampen, die schön aussehen und kein Licht geben, und aufgehängte Tücher mit dem einzigen Zweck, Balsam für die Augen zu sein. Gloria wies mir einen Platz am Tisch ihrer kleinen Küche zu. Sie wusste viel besser als ich, wohin unser Gespräch führen und wie es dorthin gelangen sollte. Vielleicht war es das, was sie so viel Selbstsicherheit ausstrahlen ließ. Aber ich glaube es nicht. Ich glaube, dieses sichere Auftreten, das ist sie. Das ist, was die Schweiz aus ihr gemacht hat.

Sie bot mir einen Kaffee an. Während sie in der Küche beschäftigt war, legte ich meinen Laptop auf den Tisch, neben einen Bundesordner, in dem die Mappen »Zeugnisse«, »Versicherungen« und »Arbeitgeber« abgelegt waren. Das war ihre ganze Geschichte in der Schweiz, wie sie mir erklärte. Und das war der Weg, den wir zusammen gehen würden, während der paar Stunden ihrer Erzählung, entlang den ausgedruckten Dokumenten voller Zahlen in Franken und unleserlicher Unterschriften.

Dieser Ordner widerspiegelte Glorias Wesen. Strukturiert, präzise, jedes Papier an seinem Platz, damit sich die Erinnerungen in Reih und Glied verfolgen ließen, ohne das Verschwommene und Unklare, das normalerweise den Fluss des Gedächtnisses begleitet. Während sie sprach, schaute ich auf ihre kleinen Hände mit den kurz geschnittenen Nägeln, die systematisch einteilten, ordneten, zählten, ihre Hände, die Kekse und Tassen auf den Tisch stellten mit der gleichen Sicherheit und Präzision, mit der sie die Erzählung unterstrichen. Diese Hände vermochten eine ganze Welt zu halten.

Wie die meisten Geschichten beginnt die ihre mit einer Begegnung. Es handelt sich um den Vater ihrer Kinder, einen Mann, den sie »Gott sei Dank« nie geheiratet hat. »Ich war Mittelschülerin, als ich ihn kennenlernte. Er war Direktor einer Schuhfabrik in Yaoundé. Er stellte mich frisch vom Abitur für Sekretariatsarbeiten ein. Er war ständig unterwegs, von einem Geschäftstreffen zum anderen. Dazwischen warf er immer einen Blick in mein Büro. Er fragte, wie es gehe, ob ich gut mit meinen Kolleginnen auskomme, ob die Arbeit interessant sei. Ich fand ihn aufmerksam und charmant.«

Mit seiner stetigen Aufmerksamkeit und Freundlichkeit gewann der Chef das Herz der kleinen Schulabgängerin. Das Herz und den ganzen Rest. Schon war sie schwanger. Der Mann war eine gute Partie. Er hatte eine Firma, eine Residenz, in der sie sich einrichtete. Es sah ganz nach einer schönen Geschichte aus, und dann fingen die Schläge an.

Sie lebte bei ihm. Sie hatte aufgehört zu arbeiten, hatte keine Familie in der Nähe und trug sein Kind im Bauch. Sie war ihm ausgeliefert.

Als das Kind dann auf der Welt war, hielt ihn nichts mehr zurück. Der zweite Junge wurde zu früh geboren, nach einer